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Reifezeit

Reifezeit

Titel: Reifezeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sophie Fontanel
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sie eines Mittags beim Verlassen der Wohnung auf dem Boden im Hausflur finde, wo sie wie ein Käfer auf dem Rücken liegt? Aus übertriebener Höflichkeit, die unangebracht, aber zutiefst anrührend ist, weigert sie sich zuzugeben, dass ihr Arm höllisch schmerzt. Er ist gebrochen.
    Was macht diese weitere Dame da auf der Kreuzung, auf der sie fünf Hauptverkehrsadern der Stadt blockiert, vor ihr ein Bus, der notgedrungenermaßen gehalten hat, und sie und der Bus einander gegenüber, in einer geradezu grotesken Konfrontation, die schon von vornherein verloren ist?
    Was macht dieser grell geschminkte Saurier da in dem marokkanischen Restaurant in der Rue Monsieur-le-Prince? Immerzu einsam und allein – dieselbe alte Dame, die zu ­einem imaginären Freund spricht, umringt von Gästen, die möglicherweise ihr Leben lang den anderen nie richtig ge­sehen haben, wohingegen sie ihn sieht.

E s kommt vor, dass ich einer von ihnen beim Überqueren der Straße helfe. Anfangs haben sie immer Angst. Seit Jahren haben sie Kindern genau das eingeimpft, dass sie auf der Straße nicht mit Leuten reden dürfen, die sie nicht kennen, dass man von Fremden, die einen einfach ansprechen, ausgeraubt werden kann. Jetzt gilt das für sie. Sie sind der Willkür eines Wolfs im Schafspelz hilflos aufgeliefert, das wissen sie. Jeder x-Beliebige könnte ihre Wehrlosigkeit missbrauchen. Zu der Zeit, als meine Mutter sich noch aus dem Haus wagte, hatte eine Halbwüchsige ihr ihre Geldkarte abverlangt. Meine Mutter hatte nicht gleich reagiert, völlig fassungslos, dass ein Kind so böse Gedanken hegt, und das junge Mädchen hatte ihr einen Hieb gegen die Brust versetzt. Und dann, als es sah, wen es da schlug, oder vielleicht auch angesichts der aufrichtig entsetzten Miene meiner Mutter, hatte das Mädchen das Weite gesucht und gerufen: »Ach, pfeif was drauf!«
    Ich biete ihnen meinen Arm. Sie taxieren mein Gesicht, ich werde blitzschnell von Mensch zu Mensch beurteilt. Sie bieten mir ihren Ellbogen, zeigen sich bereit und schicken sich in blindem Vertrauen dazu an, die breite Straße zu überqueren, wobei sie nur noch Augen für mein Gesicht haben, das sie nun unverwandt anstarren. Ich lege ihnen nahe, lieber geradeaus zu schauen. Was sie darauf auch tun. Ganze Heerscharen von Krankengymnasten haben ihnen bereits diesen Rat erteilt. Als wir auf halber Strecke angelangt sind, schaltet die Ampel auf Grün. Von keinem der zuvorderst stehenden Autos ist ein Motorbrummen zu hören. Die gesamte Menschheit wartet geduldig hinter dem Steuer. Die Betreffenden wissen, dass sie eines Tages selbst in dieser Situation sein werden. Die Solidarität hier ist gleichsam ein Vorgriff auf die Zukunft. Wenige Sekunden darauf beginnen jedoch die Fahrer weiter hinten zu hupen. Die alte Dame schreckt zusammen und klammert sich noch fester an meinen Arm – den Arm einer Fremden. Sie hat jetzt Panik, und ich ahne, dass sie sich nichtswürdig und langsam vorkommt. Ich er kläre ihr, dass wir uns davon nicht beirren lassen, dass wir in unserem Tempo weitergehen. Zwischendrin streichelt sie mit ihrer Hand ungeniert meinen Unterarm, mit knotigen, von den Jahresringen eines langen Lebens geschmückten Fingern. Wenn die alte Dame eine Einkaufstasche trägt, erwäge ich, ihr diese Last abzunehmen, so wie man ein Maultier in der Furt von allzu schwerem Gepäck befreit. Die Handtasche rühre ich jedoch nicht an. Da ist alles drinnen. Erneutes Hupen, wir sind fast auf der anderen Straßenseite angelangt. Um die Brutalität dieser durchdringend lauten Warnsignale zu mildern, die im Übrigen in geschlossenen Ortschaften gesetzlich verboten sind, sage ich zu der Dame: »Sie können es ja nicht wissen.«

S ie hat vor der Bäckerei Posten bezogen. Es ist eine Zigeunerin, das ist schon von Weitem an ihren bis zu den Füßen reichenden Röcken zu erahnen, den übereinander getragenen Schichten, der sorglos zusammengewürfelten Kleidung, an ihrem Kopftuch. Der Stock, auf den sie sich mit zitternder Hand stützt. Der gekrümmte Rücken, die Anstrengung, die es bedeutet zu stehen. Das kommt mir alles vertraut vor. Je weiter ich mich nähere, desto intensiver muss ich an meine Mutter denken, meine Mama, mein zerbrech­liches Geschöpf. Glück für meine Mutter, dass sie schön warm unter Wolldecken aus Babyalpaka eingekuschelt liegt, mit dem Luxus, im Winter eine Heizung zu haben. Ja, bei meiner Mutter ist es so warm, dass Tulpen, die man am Montag in die Vase stellt, am Dienstag schon

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