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Reifezeit

Reifezeit

Titel: Reifezeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sophie Fontanel
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nur da und lauschen, zuversichtlich, dass ein solch intensives Treiben ja auch nicht ewig währen kann. Und doch gehen die Lustbarkeiten auf der anderen Seite munter weiter. Als mögliche Erklärung bietet sich an, dass dieser Dompteur Schwierigkeiten hat, den Dressurakt abzuschließen. Wir wagen es weder zu lachen noch zu reden. Es dauert geradezu irrwitzig lange und wird schließlich unerträglich. »Willst du nicht mal an die Wand klopfen?«, fragt meine Mutter. Ich zögere. Es mag unerträglich sein, schön und gut, aber dennoch sind da zwei Menschen, die ihren Spaß haben und einander begehren. »Komm, klopf an die Wand, ja?«, beharrt sie. Und ich tue es. Drüben gewinnen die Aktivitäten deutlich an Intensität und an Ausdrucksreichtum, doch ich kann es nicht genau hören, denn ich bin ja gerade dabei, an die Wand zu schlagen. Meine Mutter hält ihr Essenstablett mit beiden Händen fest, als könnte es unter der Erschütterung zu Boden fallen.
    Die beiden halten abrupt inne, und ich bedauere sogleich, sie an der Fortsetzung ihres Vergnügens gehindert zu haben.
    Danach bleibt meine Mutter eine geschlagene Stunde lang mit gerecktem Hals sitzen, den Blick auf die Wand geheftet, und bekommt nichts mit von dem, was ich ihr erzähle. Ich frage sie zuckersüß: »Sag mal, du machst dir nicht etwa ­zufällig Hoffnungen, dass sie wieder damit anfangen, hm?« Und ihre Antwort: »Du wirst schon noch sehen, wie das ist, wenn du erst mal so alt bist wie ich. Das gibt es nicht so häufig, ein spannendes Ereignis, bei dem man selbst keinerlei Risiko eingeht.«

W enn versehentlich jemand, den sie kennt, auf die dumme Idee kommt zu sterben, weiß man nie, wie man es ihr am besten beibringen soll. Zu einem Zeitpunkt, da die Person bereits tot ist, beginnt man die Tatsache zu erwähnen, dass es dieser Person nicht besonders gutgeht. Dass ihr Gesundheitszustand sich verschlechtert hat. Dass sie Tag und Nacht schläft. Dass man auf das Schlimmste gefasst ist. Ja, dass man dieses Schlimmste eigentlich beinah erhoffen muss, wenn man bedenkt, in welcher Verfassung sich die Person befindet (die bereits unter der Erde liegt – aber das verschweigt man natürlich). Und man überlässt es meiner Mutter, ihre Schlüsse zu ziehen: »In diesem Fall wäre es viel leicht besser, sie wacht gar nicht mehr auf«, bemerkt sie dann oder: »Weißt du, irgendwann ist einfach deine Zeit gekommen«, irgendeine Überlegung dieser Art. Man könnte schwören, sie sei darauf vorbereitet. Täglich fragt sie, ob es etwas Neues gibt. Und man erteilt entsprechend Auskunft. Nach einer gewissen Zeit stellt sie keine Fragen mehr. Mein Bruder klärt mich auf: »Sie hat es verstanden.« Das Alter bringt seine eigene Form der Weisheit mit sich.
    Nur einmal, als wir auf diese Art verfahren waren, lief alles ganz anders. Ich war gerade zur Tür hereingekommen und stand vor dem Bett meiner Mutter, damit beschäftigt, meinen Mantel aufzuknöpfen, während sie mir Komplimente zu meinem Schal machte. Tja, und da, genau in dem Moment, sah sie mich plötzlich aus leicht zusammengekniffenen Augen an, wie jemand, der einem gleich einen Witz erzählen wird, und fragte, ohne mit der Wimper zu zucken: »Sag mal, Elena ist nicht zufällig gestorben?« Was tun angesichts der Wahrheit? Ich hatte keine Kraft mehr zu lügen. Zumal sie auch noch so sehr darauf gefasst schien. Ich erwiderte: »Ja, Elena ist vor vier Monaten gestorben.« Elena war achtunddreißig gewesen und hatte einen Gehirntumor gehabt. Sie war einst mit meinem Bruder verheiratet gewesen. »Oh nein …«, hatte meine Mutter gesagt. Und dann sofort ihr Kummer, unerträglich. Sie weinte, wie alte Menschen weinen, die Schluchzer stiegen aus ihrer Kehle empor, denn ihr Tränenkanal war ebenfalls vertrocknet und erlaubte keine echten Tränen mehr.
    Ich verstand nicht, warum sie weinte, wo sie es doch bereits geahnt hatte.
    Und es wurde mir bewusst, dass meine Mutter so lange nicht mehr nach Elena gefragt hatte, dass wirklich und wahrhaftig genug Zeit zum Sterben gewesen war. Allerdings für einen Tod, wie sie ihn sich vorstellte. Mir wurde klar, was der Tod für meine Mutter war: etwas, wozu sie entschlossen war und was nicht das Leben war, was aber auch auf keinen Fall dem Tod ähnelte, wie ihn die Lebenden darstellten, ihn sich ausmalten, ihn beschrieben und einem präsentierten. Es gab einen Zustand, der nicht dem durch andere vermittelten Bild entsprach, sondern ihrer eigenen Phantasie entsprungen war, einen

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