Reifezeit
Eltern sagten sich: ›Wir werden das empfindlichere Kind mitnehmen.‹ Und so machten wir uns auf den Weg. Sie hieß Aghavnie, die Schwester, die wir zurückließen. Sie war dreizehn, als sie zu uns nach Frankreich ziehen konnte. Ein Mädchen, das viel hübscher war als ich und das mehrere Sprachen sprach. Man hatte ihr wieder und wieder erklärt, dass ihre Mama sie nicht behalten hatte, weil sie so gesund und kräftig gewesen war. Folglich fand sie Gefallen daran, ständig krank zu sein. Zu der Zeit, als der Milzbrand gerade in aller Munde war, erhielt ich einen Brief. Es fühlte sich an, als enthielte der Umschlag Sand. Damals ging das Gerücht um, dass man Milzbrandsporen per Post bekommen konnte. Doch es waren keine Milzbrandsporen, es war ein Brief von meiner Schwester, die mir ihre gesammelte Tagesration Pillen und Kapseln schickte, als Beweis für ihren labilen Gesundheitszustand. Zu guter Letzt zog sie sich eine wirkliche Krankheit zu, und zwar eine unheilbare und absolut seltene, wie es scheint. Sie wissen schon, eines dieser Stiefkinder der Medizin. Eigentlich ist sie diejenige, die hier zwischen Ärzten und Pflegern liegen sollte, aber sie ist vor drei Tagen gestorben, und dafür bin ich jetzt gestürzt.«
E ines Sommers entschied ich mich für Korfu. Es ist klar, dass meine Mutter, wenn ein Reiseziel für sie in der ein oder anderen Weise von Interesse ist, ihre Angst, genauer die Angst, in meiner Abwesenheit zu stürzen, ohne dass einer ihr zu Hilfe eilt, besser unter Kontrolle hat. Wochen vor meiner Abreise kramt sie in ihrem Gedächtnis nach Anhaltspunkten, die mir helfen könnten, den Ort zu finden, an dem sie geboren ist. Sie sichtet Fotos, von deren Existenz ich keine Ahnung hatte und auf denen ihre Eltern zu sehen sind, wie sie ihre Babys eng umschlungen halten. Doch sie kann nichts Brauchbares entdecken.
Auf Korfu rufe ich sie aus einem Café in der Stadt an. »Achillion«, sagt sie mir. »So war der Name. Es ist mir wieder eingefallen.« Ich frage den Kellner, ob er einen Ort namens Achillion hier auf Korfu kennt. Kennt er. »Sie müssen die Küstenstraße in Richtung Levkímmi hinunterfahren. Es befindet sich in Gastouri, einem Dorf oberhalb des Meeres im Hinterland. Sie werden die Schilder sehen.«
Wir machen uns auf den Weg. Tatsächlich ist sehr bald schon Gastouri ausgeschildert. Und genauso bald und in goldenen Buchstaben: » Achil lion«. Wir gelangen in das Dorf, wo dieses Achil lion leicht zu finden ist: Es ist ein gigantischer Palast aus weißem Marmor. Eine Schlange von Touristen wartet geduldig vor einem Schalter. Auf einer Tafel steht: »Dieses geräumige Domizil wurde erbaut von der Kaiserin Sisi.« Ich rufe erneut bei meiner Mutter an: »Du hast dich geirrt«, erkläre ich. »Du kannst hier nicht geboren sein, denn hier steht der Palast von Kaiserin Sisi. Vielleicht bist du einfach in Gastouri geboren?« Während ich mit ihr spreche, besorgen wir uns Eintrittskarten und gehen hinein. Ich stehe nun im Park, und meine Mutter fragt: »Gibt es dort eine weitläufige französische Gartenanlage mit kugeligen Sträuchern?« Ja. »Es ist ganz aus weißem Marmor und hat drei Stockwerke?« Ja. »Es ist weiß, aber man möchte fast meinen, es sei blau, oder auch rosa?« Ja. »Den Haupteingang säumen Säulen?« Ja. »Der Boden ist grau-weiß, mit großen, quadratischen Steinplatten?« Ja. »Geh in die Eingangshalle.« Ich gehe dorthin. »Schweben dort an der bemalten Decke zehn Frauen am Himmel?« Ja. »Genau dort bin ich geboren. Meine Mutter hat es mir beschrieben. Und sag mal … Ist da noch jemand?«
Am Ausgang bestätigt mir ein Führer, dass der Palast während des Zweiten Weltkriegs als Krankenhaus diente und dass man anschließend eine ganze Weile lang Immigranten dort aufnahm, die auf dem Sprung nach Europa oder in die Vereinigten Staaten waren. Vorwiegend Armenier.
M an hatte mich ersucht, den Raum zu verlassen. Es war die Zeit, zu der das Pflegepersonal bei meiner Mutter erschien, um sie medizinisch zu versorgen, und ich lief auf der Station auf und ab. Es behagte mir nicht besonders, an einer Tür nach der anderen vorbeizukommen und Szenen zu erspähen, an die ich mich nicht wollte erinnern müssen. Menschen, die in ihrem Zimmer im Kreis herumliefen. Frauen mit wüst zerzaustem Haar, die leise vor sich hin brabbelten. Szenen dieser Art.
Ein Mann erregte meine Aufmerksamkeit: Er hatte einen Computer auf einem Tablett vor sich stehen. Es war das erste
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