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Reifezeit

Reifezeit

Titel: Reifezeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sophie Fontanel
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ja sie starrte auf ihren angewinkelten Arm, den sie so weit wie möglich von sich weghielt, in exakt der Art und Weise, in der sie es einst getan hatte, um Ringe anzuprobieren. Für sie wog diese neue Haut alle Schmuckstücke auf. Ein weiterer Anlass zur Fassungslosigkeit war die Feststellung, dass diese so wirksam mit Feuchtigkeit versorgte Haut auf den geringfügigsten Stoß hin von Blutergüssen überzogen war. Dass sich dort unter der Haut Blutgefäße befanden, die ebenso fein, wenn nicht sogar feiner als ihre so leicht zu beschädigende Schutzschicht waren. Und dass darunter, noch tiefer drinnen, auch die Knochen wie aus Glas waren. Kurzum, sie war ein Fakir, der auf gefährlichem Untergrund saß. Man durfte sich nicht stoßen. Durfte sich nicht auf die Schenkel schlagen beim Lachen, denn dann verletzte man sich. »Nun gut, ich werde mich eben nicht zu heftig bewegen«, beschloss sie. Und zu guter Letzt ihre Fassungslosigkeit, als sie von einem Arzt, der eigens erschienen war, um ihr die Situation in ihrem Zimmer zu erklären, auseinandergesetzt bekam, weshalb sie nicht einfach gemütlich im Bett liegen bleiben durfte, ohne sich zu rühren, weshalb man sie dazu nötigen musste, aufzustehen und sich zu bewegen, und wozu der Sessel gut war, und der Wechsel vom Bett in den Sessel und vom Sessel zurück ins Bett. Ihr Widerstand gegen die absurde Erklärung, die man ihr da servierte. Da wollten sie ihr, meiner hochintelligenten, mit so viel gesundem Menschenverstand gesegneten Mutter doch glatt weismachen, dass ihre zarte Haut, deren Verführungskraft sie in jüngster Zeit entdeckt hatte, absterben würde, wenn sie sich nicht ­bewegte. Nicht sie würde sterben, hatte der Arzt gesagt, nein, ihre Haut sei es, die absterben würde. Und zu allem Überfluss zog dieser armselige Typ, der es nicht wagte, die wundgelegenen Stellen beim Namen zu nennen, da ihm das Wort Druckbrand selbst nicht geheuer war, auch noch den Begriff Nekrose vor. Meine Mutter setzte jene angewiderte Miene auf, die sie vulgären Ausdrücken vorbehielt.
    Kaum hatte man eine unwiderstehliche Haut, ging es auch schon mit den Scherereien los.

E ines Tages dann ein Beckenbruch. Die Notaufnahme. Der Assistenzarzt zeigt mir die Röntgenbilder. Sie, neben uns auf die Bahre hingestreckt, hört zu. Der Assistenzarzt fordert sie auf: »Erzählen Sie mir mal, wie das passiert ist.« Und meine Mutter, die mich eines Tages gewarnt hatte »Ich spreche nicht gern von mir selbst« und die noch wenige Sekunden zuvor zu geschwächt war, deren Kopf auf dem zu flachen Kopfkissen zu weit nach hinten geneigt war, als dass sie auch nur die einfachsten Worte über die Lippen gebracht hätte, hebt an zu erzählen: »Also, es war so, Herr Doktor, ich wurde in Griechenland geboren, auf Korfu. Im Jahre 1924. Sie müssen wissen, dass wir Armenier sind. Das ist eine bedeutende Kultur. Die ›armenische Kultur‹ ist ja im Übrigen ein fester Begriff. Meine Familie floh aus der Türkei. Meine Mutter gebar 1922, zu Beginn der Reise, in Çanakkale an den Dardanellen, ihr erstes Kind. Einige Zeit danach wurde meine Mutter in Kefallinia, Griechenland, ein zweites Mal schwanger. Die Entbindung dann auf Korfu. Sie waren kaum auf Korfu eingetroffen, da gingen meine Eltern vier Visa für Frankreich beantragen: für sich, für meine bereits geborene Schwester und für das künftige Kind. Es dauerte Monate, bis sie die Visa erhielten. Zwei Tage, nachdem sie sie bekommen hatten, brachte meine Mutter Zwillingstöchter zur Welt. Die Einwanderungsbehörde warnte meinen Vater: ›Sie sind nicht mehr zu viert, sondern zu fünft. Sie müssen komplett neue Papiere beantragen.‹ Das konnte abermals Monate in Anspruch nehmen. Und sie hatten bereits zwei Jahre Exil hinter sich. In denen sie ohne Arbeit und festes Zuhause auskommen mussten. Die Eltern meines Vaters weilten ebenfalls auf Korfu. Mein Großvater war Priester, aber bei uns können Priester heiraten. Mein Großvater hatte mehr oder weniger die Rolle des Diplomaten innerhalb der armenischen Gemeinschaft inne. Zu dem Zeitpunkt hatte er gerade seine Versetzung in den Libanon erhalten. Er sagte: ›Und wenn wir einen der Zwillinge mit uns nach Beirut nähmen, damit ihr keine neuen Visumsanträge stellen müsst?‹ Das schien in der Tat das Vernünftigste. Meine Mutter musste sich entscheiden, welche der beiden Zwillingstöchter sie zurückließ. Ich war ein zartes Baby. Meine Schwester hingegen war ausgesprochen gesund und kräftig. Meine

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