Reifezeit
erinnert mich an den Tag nach einem Fest. Und die Sekunden verstreichen und verstreichen weiter und immer weiter, und keinerlei Einfall. Und aus den Sekunden werden Minuten. Wir werden sie nicht nötigen, noch tiefer zu forschen. Vielleicht hat man ja, wenn man älter wird, auch gar keine schlechten Eigenschaften mehr. Ich habe beobachtet, wie sie sich mit der Zeit verschärften, doch anschließend wurde es dann wieder besser. Kurzum, wir wechseln das Thema. Ja, wir haben die Frage bald schon vergessen.
Und dann fällt es ihr wieder ein: »Ach doch, ich habe eine Schwäche: Ich habe Hemmungen, andere zu belästigen.«
D er Pflegehelfer, der mit seinem Medikamentenwagen vor dem Zimmer meiner Mutter anlangt. Er verströmt mehr Sonnenschein als jeder Eisverkäufer. »Mohammed« prangt in riesenhaften Lettern, die fast den gesamten Rumpf einnehmen, auf seinem Kittel: »Das ist, damit sie es lesen können«, wie er mir erklärt. Er verrichtet diese wahnwitzige Arbeit. Wer nimmt schon eine solche Tätigkeit an, frage ich mich im Stillen. Doch man möchte meinen, er habe meine Frage gehört. Dies ist für ihn der Tag der Erklärungen: Er ist stolz, mir auseinanderzusetzen, dass diese Arbeit nur Wenige zu verrichten vermögen. Genau aus diesem Grund ist es schwierig, überhaupt genommen zu werden. Er hat seine Vorstellungsgespräche hier jedoch als Lichtblick in Erinnerung. »Man erzählte mir von der Bedeutung der Menschlichkeit.« Zuvor war er Kassierer bei der Einzelhandelskette Carrefour gewesen. Er weiß, was es heißt, keinem einen echten Dienst zu erweisen. Er war gefeuert worden, weil er Mitleid mit einer Kundin bekommen und ihr drei Euro nachgelassen hatte. »Ich kannte sie, da sie öfter bei uns einkaufte, und das war bereits ein Vergehen, das können Sie sich ja vorstellen …« Überall, wo er beschäftigt war, kam der Arbeitgeber rasch auf die Gesetze des Marktes zu sprechen. Hier fragte man ihn (der sich als einfache Hilfskraft beworben hatte), ob es in seiner Familie alte Menschen gebe; man fragte ihn, was er für Vorstellungen zum Thema Schamgefühl habe, ob Gebrechlichkeit bei ihm ein Gefühl der Hilflosigkeit hervorrufe, ob er sich ausmalen könne, dass ein Mensch eine Brücke zu anderen Menschen schlage. Das ging so weit, dass ihn schon vorübergehend die Befürchtung beschlich, er könnte in eine Sekte hineingeraten sein. Die ersten Wochen überwachten diejenigen, die schon länger dort arbeiteten, jeden seiner Schritte. Er putzte ein Zimmer, ohne die Person, die dort im Bett lag, zu beachten, und einer beobachtete ihn dabei. Beim anschließenden Meeting sprach eine Vorgesetzte ihn darauf an: »Mohammed, sieh die Patienten an, wenn du in ihre Privatsphäre eindringst, hab keine Scheu.« Und dass man ihm gegenüber das Wort »Scheu« gebrauchte, statt ihm »Gleichgültigkeit«, »Unfähigkeit«, »negative Leistungen« oder »geistige Beschränktheit« vorzuwerfen, rührte ihn zutiefst.
Drei Jahre, bis er es zum Pflegehelfer brachte. Er versteht etwas von seinem Metier und fürchtet weder forderndes Verhalten noch Zurückweisung; er weiß, wie man aufrichtet, was sich krümmt, wie man Patienten, bei denen einschließlich der verzweifelten Angehörigen alle resignieren, mit sanfter Gewalt, aber vertrauensvoll wieder auf die Beine hilft. Er nimmt nun seltener den Besen zur Hand. Dafür kommt er mit den Körpern und dem, was von ihnen ausgeht, in Berührung. »Das könnten Sie selbst nicht machen«, sagt er zu mir. »Man muss die richtigen Handgriffe kennen. Man muss es gelernt haben. Und man muss es verstanden haben.« Er denkt nach, während sein Blick nach draußen schweift, wo durch ein Fenster ein paar kahle Bäume zu erkennen sind: »Das ist nicht einfach nur ein Pflichtjob.«
D ie Tage, an denen ich schwach war. Krank, mich mühsam dahinschleppte. Nicht wagend, irgendjemandem zu sagen, dass ich das Ganze nicht mehr länger durchhielt. Panisch rieb ich mir meinen übersäuerten Magen, der sich wie verätzt anfühlte. Nachts krümmte ich mich wie ein Fötus, weil es mich in diesem Bereich so schmerzte. Ja, wie ein Fötus, natürlich. Wo war meine Kraft geblieben? Wo war die Frau geblieben? Ja, wann würde ich überhaupt zur Frau? Beim Arzt schämte ich mich. Es ist immer wieder dieselbe schreckliche Geschichte – ein guter Fachmann, der einen behandelt, einen vollständig heilt, und man selbst kreuzt alle fünf Monate mit demselben Leiden wieder bei ihm auf. Er wird meinen, ich mache das
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