Reifezeit
die ich nicht essen werde. Zum Zeichen seiner Wertschätzung erklärt er mir: »Mademoiselle, leider habe ich eine Ehefrau zu Hause, doch wenn dem nicht so wäre, wer weiß, wo das mit uns noch hinführen würde?« Ich verlasse den Laden, und sie nennen mich zum Abschied »Sireliss«, was so viel heißt wie »mein Liebchen«. Dieser altertümliche kleine Laden wird wohl mit ihnen und meiner Mutter zusammen verschwinden.
»Das nächste Mal bringst du mir Kalamata-Oliven mit. Die dicken. Die Mammutoliven«, sagt sie. Denn die, die ich besorgt habe, haben für ihren Geschmack eine zu feste Schale. Wenn ich dann ein nächstes Mal die allerdicksten besorge, befindet sie den Kern für zu groß. »Es gibt da noch eine andere Sorte«, entsinnt sie sich. »Heller und saftiger.« Doch wenn ich ihr die mitbringe, an die sie dabei denkt, die Taggiasca-Oliven, lautet ihr Urteil »zu salzig«. Die griechischen mit der runzeligen Schale schmecken für ihr Empfinden bitter. An den Parajera-Oliven ist nicht genügend Fruchtfleisch dran. Die Arbequina-Oliven sind nicht armenisch genug. Die Picholines sind zu klein. Die Grossane-Oliven zu rund. Die Salonenque-Oliven zu grün. Und die Lucques-Oliven schmecken, wie sie energisch erklärt, nichtssagend, sie haben nichts Orientalisches an sich.
Natürlich vermisst sie die mit baskischem Chili eingelegten Oliven von den Märkten in Südfrankreich. Ich wage allerdings zu behaupten, dass sie, würde ich sie ihr mitbringen, ebenfalls nicht der Vorstellung entsprächen, die sie sich davon macht.
Unlängst war mein Elan endgültig erschöpft (ich sollte erneut zu dem armenischen Lebensmittelladen fahren), und ich erklärte ihr, dass man den Geschmack, den man in Erinnerung hat, niemals wiederfinden würde. Daraufhin gab sie schließlich nach, so als ließe es sich auch hier, einmal mehr, nicht vermeiden, dass man im hohen Alter gewisse Abstriche macht: »Vielleicht wäre es besser, du besorgst mir ganz gewöhnliche. Ich komm dann schon zurecht.«
Z uweilen überkreuzt sich mein Besuch mit dem von Leila. Sehr zur Freude meiner Mutter, die uns gern zuhört, wenn wir miteinander reden. Dann füllt sich für eine Stunde ihr Haus so richtig mit Farbe und Leben und wird zum Treffpunkt für ein Plauderstündchen. Wachsam verfolgt sie unsere Unterhaltung, wobei sie den Kopf jeweils derjenigen zuwendet, die gerade das Wort hat, und dann der anderen, wenn diese noch etwas zu dem Gesagten zu ergänzen hat. Man könnte meinen, sie wohne einem Tennismatch b ei. Und in gewisser Weise ist ein verbaler Ballwechsel zwischen Leila und mir tatsächlich eine Attraktion. Das Unterhaltungsprogramm spielt sich nicht allein auf den Fernsehbühnen ab. Für sie tobt das Leben einfach überall. Das wird ihr in solchen Momenten bewusst.
Sie selbst spricht wenig, viel zu sehr davon eingenommen, das Schauspiel voll auszukosten. Also sprechen wir beide über sie. Davon, wie wach sie noch ist im Kopf, während sie ebendiesen Kopf nach uns reckt, völlig fasziniert vom Thema des Tages. Und bei dieser Gelegenheit unternimmt sie die unerhörte Anstrengung, sich in ihrem Sessel aufzurichten. Wir sprechen von ihrem Lächeln. Auch Leila, die marokkanischer Abstammung ist, erkennt darin die Zuvorkommenheit derer, die fremd sind in einem Land. Und wir sprechen darüber, über die positiven Seiten des Exils. Wir schweifen zu allgemeinen Themen ab – und kommen dann wieder auf meine Mutter zurück. Ihre Wangen beginnen erneut zu glühen. Wir sprechen über ihr Gesicht, bei dessen Erschaffung die Götter es gut gemeint haben und das ihr das Aussehen einer Griechin verleiht. Leila geht noch weiter: »Ja, das Aus sehen einer Russin oder gar einer Komtess«, und darauf gerät meine Mutter endgültig aus dem Häuschen vor Freude. Wir bescheinigen ihr lauter herausragende Eigenschaften. Sie nimmt all diese Komplimente mit einem billigenden Nicken entgegen – man könnte meinen, ein gelehrter Rabbiner, der zustimmt, dass die Welt großartig ist. Sie schweigt. Und ich habe begriffen: Durch ihr Schweigen kaschiert sie, dass sie nicht mehr die Schnellste ist. Ich frage sie, welche Schwäche sie überhaupt noch haben könnte angesichts die ser unüberschaubaren Fülle von Tugenden. Das mache ich, um ihr Gedächtnis auf Trab zu bringen. Die Stimmung schlägt um. Nicht so schnell. Da muss sie erst einmal nachdenken. Den Zeigefinger auf die Lippen gelegt, beginnt sie zu überlegen. In der Wohnung herrscht vollkommene Stille, es
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