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Reifezeit

Reifezeit

Titel: Reifezeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sophie Fontanel
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mit Fleiß. So sagte ich mir jedenfalls. Ich schämte mich, schämte mich so entsetzlich. Da wünschte man wirklich, man wäre eine verführerische Kurtisane, lasterhaft, erotisch, die im Extremfall auch eine absolute Bauchlandung in Kauf nimmt und jede sich bietende Gelegenheit zum Sex gierig ergreift. Es gibt Frauen, die schaffen es, sich in solche Situationen zu bringen, familiäre Verpflichtungen hin oder her. Ich habe miterlebt, wie Frauen ungeniert ihresgleichen in die Arme sanken, einfach nur, um einen Abend lang die Männer oder die Sorgen zu vergessen. Ich hätte mich ebenfalls irgendwelchen Männern an den Hals werfen können, um das Volk der alten Damen zu vergessen. Hätte meine Verführungskünste spielen lassen können. Aber nein, ich tat nichts dergleichen. Ich kümmerte so vor mich hin in meiner Enthaltsamkeit, die mir immer selbstverständlicher erschien. Ich betrachtete mich im Spiegel, musterte mein Gesicht, das aufgrund meiner Bauchschmerzen blass geworden war, und meinte auf meiner Stirn, zwischen den Augen, eine ­noble Partie zu erkennen, so glatt und ebenmäßig wie der Nasenrücken eines Pferdes, die ich umgehend zum Ziel meines Hasses erkor. Ich erblickte darin die ersten Anzeichen der Heiligkeit, einer Sackgasse, gegen die die Magenbeschwerden die reinste Bagatelle waren. Und ich wehrte mich mit aller Macht dagegen. Wer will schon eine Heilige sein, wenn es vielleicht noch Männer wie Robert Mitchum gibt. Und wer will vor allem schon etwas von einer Heiligen?
    Was ich an Phantasie bräuchte, um das Wagnis einzugehen, wieder ein etwas ausschweifenderes Leben zu führen. Mich zu schminken. Wieder einmal mit meinen Beinen zu kokettieren. Fremden Blicken standzuhalten, auf die Gefahr hin, dass man in meinem eigenen etwas Rätselhaft-Unergründliches entdeckt. Es zuzulassen, dass einer sich anschickt, meine Haut zu berühren, und mich der grenzen­losen Wohltat anzüglicher Worte hinzugeben. Zu vergessen, dass der Körper langsam verfällt. Oder aber mir, im Zuge ­einer soliden Beweisführung, in einer Nacht der zügellosen Hin gabe in der belanglosen Umarmung irgendeines windigen Casanovas sagen, dass der körperliche Verfall die unterschiedlichsten Formen annimmt, und das im Laufe des ­Lebens oftmals auf eine ganz und gar verlockende Art und Weise. Dass alles halb so schlimm ist. Dem schwindenden Abstand zwischen meinem Körper und dem meiner Mutter einen Riegel vorschieben. Mir immer wieder neu vor Augen führen, dass sie mich zur Welt gebracht hatte. Dass sie Männer begehrt hatte. Dass ich das sehr wohl ebenfalls konnte.

J ener Sonntag, als sie in Schweigen versunken ist. Sie ruft nicht: »Meine Tochter!«, als sie den Schlüssel im Türschloss hört. Sie hat weder vor dem Fernseher Stellung bezogen noch vor dem Fenster. Hat auch nicht das Radio auf den Knien. Sondern sie sitzt im Sessel, die Ellbogen auf ihr Essens­tablett gestützt, die Fäuste in die Wangen gegraben. Und hat obendrein noch die Stirn in Falten gelegt, als brüte sie Gott weiß was aus. Ich trete zu ihr hin, um zu fragen, was los ist, doch sie kommt mir sofort zuvor: »Pscht!« Und ich bin still, denn was habe ich je anderes getan, als ihr zu gehorchen?
    In dem Moment höre ich sie auch. Es kommt von drüben hinter der nachträglich eingezogenen Wand, mit der man vor langer Zeit die einst weitläufige Wohnung in zwei Einheiten unterteilt hat. Sie gebärden sich alles andere als zurückhaltend. Sie stöhnt: »Du versauter Kerl, was machst du da mit mir?« und »Au, du tust mir weh!«, doch durch die Wand dringt unüberhörbare Heiterkeit herüber, ein vergnügter Unterton in dem Lamentieren dieser Frau, deren Gezeter im Grunde genommen Ausdruck ihrer Zustimmung ist. Selbst als ein schreckenerregendes Geräusch, das wie ein Fausthieb klingt, ihren Wortwechsel unterbricht, hört man schon in der Sekunde darauf die Frau fröhlich glucksen: »Du mieser Stümper, du hast mich aus dem Bett geschubst, los, heb mich wieder auf!« Und dann geht es von vorne los, man hört sie schreien und stöhnen und sich wild hin und her bewegen. »Kommt das oft vor?«, frage ich leise. »Ständig. Und sogar nachts, kannst du dir das vorstellen?«, erwidert meine Mutter, während der Mann auf der anderen Seite der Wand sein Tun und Lassen in einem fort kommentiert und es scheinen will, als sei er gleichsam ein mit über­irdischer Ausdauer gesegneter Dompteur. Das unbändige Gebaren dieses Paares, hier, so dicht neben uns. Wir sitzen einfach

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