Reigen des Todes
Monarchie denkwürdig bleiben. Die kaiserlichen Handschreiben an die gemeinsamen, die österreichischen und die ungarischen Minister, sowie eine Proklamation an die Bevölkerung von Bosnien und der Herzegowina werden soeben veröffentlicht. In diesem Augenblick ist auch die Türkei bereits verständigt worden, dass der Kaiser beschlossen habe, seine Souveränitätsrechte auf Bosnien und die Herzegowina zu erstrecken. Die Angliederung von Bosnien und der Herzegowina an die österreichisch-ungarische Monarchie ist somit bereits vollzogen!
Fast hätte Leo Goldblatt das Umsteigen verpasst. Er sprang von seinem Sitz auf, stürzte zur rückwärtigen Plattform der Tramway und sprang von dem bereits anfahrenden Zug ab. »Wenn das nur keinen Krieg mit Serbien provoziert«, murmelte er vor sich hin und stieg in eine der Ringlinien ein. Dort las er dann weiter.
Die Angliederung schließt um diese Länder ein Band, das sie für alle Zeiten nach Jahrhunderten der Barbarei und der Knechtung, nach langen Perioden des konfessionellen und nationalen Hasses mit der europäischen Zivilisation untrennbar verknüpft.
»Wie wenn das so einfach wär!«, grantelte Goldblatt, faltete die Zeitung voll Sorge zusammen und starrte zum Tramwayfenster hinaus.
Bei der Stefanibrücke stieg er aus und ging den Stiegenabgang zum Ufer des Donaukanals hinab. Da er die Gewohnheiten der Griasler kannte, musste er nicht lange den Einstieg zu einem der Kanalschächte suchen, die ihnen als Schlafplätze dienten. Er stieß auf ihm Unbekannte sowie auf den Zigeuner. Den rüttelte er wach und zog ihn mit sich ins Freie. Dort zeigte er dem verdutzten und völlig verschlafenen Griasler das gezeichnete Porträt des Toten. Nachdem Goldblatt ihm zwanzig Heller versprochen hatte, war er plötzlich sehr wach. Aufmerksam schaute er sich das Bild an, kratzte sich das dichte, fette Haar und schüttelte den Kopf. »Nein, mein Herr. Den da kenn ich net. Den hab ich noch nie gesehen.«
Auf Goldblatts Bitte weckte er seine beiden Kumpane. Auch sie erkannten niemanden aus ihrem Milieu. Goldblatt gab dem Zigeuner die versprochenen zwanzig Heller und den anderen beiden gemeinsam noch einmal so viel. Nachdenklich ging er den Donaukanal entlang flussabwärts, um bei der Sofienbrücke wieder hinaufzusteigen. Flotten Schrittes durchquerte er den grünen Teil des Praters, der zwischen Donaukanal und Prater Hauptallee lag. Danach lief er an der mächtigen Rotunde vorbei und kam hinter dem städtischen Lagerhaus in einen weiteren grünen Teil des Praters, der an die Praterkaserne grenzte. Hier fand er zwischen den Gebüschen einen schmalen Weg, der zu einer kleinen Wiese führte, wo eine ganze Reihe zusammengekrümmter Gestalten lag. Leo Goldblatt zögerte. Die Gegend war gottverlassen und die Elendsgestalten nicht gerade vertrauenerweckend. Zum Glück hatte er seinen Flachmann, der mit Trebernem gefüllt war, dabei. Vorsichtig weckte er einen der Griasler. Der blinzelte ihn misstrauisch an. Als Goldblatt ihm wortlos den Flachmann reichte, griff er mit vor Kälte klammen Fingern danach. Gierig trank er einen kräftigen Schluck. Danach hustete er fürchterlich. Nun erwachten auch die anderen Griasler. Misstrauische Blicke und finstere Mienen. Doch Goldblatt ließ seinen Flachmann im Kreis herumgehen und die Situation entspannte sich. Nach und nach schauten sich die Obdachlosen das gezeichnete Porträt an, doch keiner erkannte den Toten. Goldblatt seufzte enttäuscht und verabschiedete sich mit den Worten: »Meine Herren, ich danke. Da habt S’ eine Krone. Kauft ’s euch was zum Essen oder zum Saufen … Habedieehre.«
Er ging den Weg, den er gekommen war, zurück. In der Hauptallee bestieg er die Tramway, um in die Redaktion zu fahren. Dabei kam er an dem niedrigen, lang gestreckten Gebäude der Kunstschau Wien 1908 vorbei. Er erinnerte sich an eine Diskussion, die er neulich im Kaffeehaus mit dem Redakteur Eduard Pötzl geführt hatte. Pötzl war ein erbitterter Gegner der Künstlergruppe rund um Gustav Klimt und ließ sich deshalb aufs Fürchterlichste über die in der Kunstschau gezeigten Exponate aus. Goldblatt, der an sich mit Kunst nicht allzu viel anzufangen wusste, wunderte sich sehr über das echauffierte Benehmen seines Kollegen. Aus reinem Widerspruchsgeist hatte er für Klimt und Konsorten Partei ergriffen. Als er nun in der Tramway saß und das weiße Gebäude sah, stieg er bei der Haltestelle spontan aus. Zügigen Schrittes ging er auf die Kunstschau
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