Reigen des Todes
das Fräulein Moravec.«
»Was? Was verstehen Sie?«
»Dass sie genug von Ihnen hat. Heute hat sie nämlich ihre beiden Koffer gepackt, hat mir den Wohnungsschlüssel zurückgegeben und ist ausgezogen.«
»Wohin? Wohin ist meine Verlobte gezogen?«
»Das weiß ich nicht. Ich weiß aber eines, dass sie nicht mehr Ihre Verlobte ist. Das da soll ich Ihnen geben.« Und damit drückte die alte Videtzky dem Hansi Popovic Steffis Verlobungsring in die Hand.
Oktober
»Das erste ornament, das geboren wurde, das kreuz, war erotischen ursprungs. Das erste kunstwerk, die erste künstlerische tat, die der erste künstler, um seine überschüssigkeiten los zu werden, an die wand schmierte. Ein horizontaler strich: das liegende weib. Ein vertikaler strich: der sie durchdringende mann.«
Adolf Loos in ›Ornament und Verbrechen‹, Wien 1908.
I/4.
Wieder schwamm eine Leiche im Donaukanal. Diesmal nicht zerstückelt, sondern als Ganzes. Sie war von zwei Lausbuben, die die Schule geschwänzt hatten, entdeckt worden. Ihr Geschrei hatte Passanten angelockt, die die Sicherheitswache verständigten. Die Polizisten zogen dann den Leichnam, der sich an einem ins Wasser hängenden Ast einer Weide verheddert hatte, aus den Fluten.
Daran musste Joseph Maria Nechyba denken, als er die Hälfte einer Sellerieknolle aus der Einbrennsuppe fischte, um sie, weich gekocht, wie sie war, durch ein Sieb zu passieren. Beim Passieren fiel ihm das Wort ›obduzieren‹ ein und er erinnerte sich, wie er die nackte, männliche Leiche in der Gerichtsmedizin auf dem Obduziertisch liegen gesehen hatte. Das fein passierte Selleriepüree kam jetzt gemeinsam mit den in Salz- und Zitronenwasser weich gekochten Würferln der zweiten Selleriehälfte in die Suppe, wo alles gemeinsam noch einmal aufgekocht wurde. Der Obduktionsbefund ergab, dass der unbekannte Mann stranguliert worden war. Erst nach dem Eintritt der Leichenstarre war er ins Wasser geworfen worden. In die Suppe gab der Inspector nun nudelig geschnittene Pilze sowie zwei Eidotter, ein Sechzehntel Liter Milch und etwas Butter. So wurde aus einer ordinären Selleriesuppe eine Creme Lisette. Die Pilze hatten er und seine Frau vor zwei Monaten im Wienerwald gepflückt und danach getrocknet. Er kostete noch einmal, nickte zufrieden und stellte fest, dass die Creme Lisette gut und fertig war. Er nahm den Suppentopf vom Herd und ärgerte sich, dass sonst in diesem Jahr so gut wie nichts gut und fertig wurde. Die Feiern zum sechzigsten Regierungsjubiläum Seiner Majestät zogen sich endlos hin. Nach der Kinderhuldigung, dem großen Kaiser-Huldigungs-Festzug, unzähligen Ausstellungen und sonstigen Veranstaltungen folgte nun Anfang Dezember ein weiterer Festakt, bei dem er und seine Leute wieder voll im Einsatz sein würden. Und auch seine Suche nach Steffi Moravec war bisher ergebnislos verlaufen. Mit Widerwillen erinnerte er sich an den Rapport bei Gorup von Besanez am Vortag. Sein Vorgesetzter war fürchterlich grantig und machte Nechyba massive Vorwürfe.
»Es wird allmählich Zeit, dass Sie die Mörderin des Oberstleutnant Vestenbrugg finden, Nechyba! Mehr als ein halbes Jahr doktern Sie nun schon an diesem Fall herum. Himmelarschundzwirn! Es kann doch nicht so schwer sein, dieses Mensch in Wien zu finden. Was tun Sie eigentlich den ganzen Tag? Mir scheint: nur Fressen und Saufen! Da wundert es einen nicht, dass Sie immer dicker werden. Ich mach mir um Ihre Gesundheit allmählich ernsthaft Sorgen, Nechyba!«
Mit rotem Schädel und einem knappen »Ich werde sie finden. Guten Tag, Herr Präsident!« verließ er das Büro seines Vorgesetzten. Alles, wirklich alles, hätte er ihm verziehen. Nur nicht diese plumpen Vertraulichkeiten, die sein Körpergewicht betrafen! Das verletzte Nechyba. Seit Gorup von Besanez im Juli zum Vize-Polizeipräsidenten von Wien ernannt worden war, hatte er eine merkwürdige Veränderung durchgemacht. Er trat nun dem Inspector gegenüber distanzierter auf und zeigte sich für die Mühen der täglichen Polizeiarbeit generell verständnisloser. Nechyba hatte den ganzen restlichen Tag sowie in der darauf folgenden Nachtschicht Magenschmerzen. Erst heute Nachmittag, als er nach einem traumlosen Erschöpfungsschlaf aufgewacht war, gab sein Magen endlich wieder Ruhe. Nachdem er um drei Uhr im Café Sperl ›gefrühstückt‹ hatte, machte er eine Naschmarkt-Runde. Entgegen seinen sonstigen Gewohnheiten hatte er überhaupt nicht auf das Treiben um ihn herum geachtet,
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