Reinen Herzens
durchgedreht?, fragte sie sich.
»Wo?«, fragte er.
Sie erwiderte, der Chef habe gesagt, er wolle jemanden zu dem Engel nach Hause schicken. »Kennst du ihn, Felix?«, fragte sie leise, »diesen Engel, meine ich.« Gott, war das aufregend, schoss es ihr durch den Kopf. Es kribbelte in ihrem Nacken, ihre Gedanken flatterten wie die Schmetterlinge in ihrem Bauch.
Ihr Freund antwortete nicht. Er warf einen kurzen Blick auf seine Armbanduhr, stellte sein Glas ab, beugte sich zu ihr hinüber, küsste sie leidenschaftlich und stand auf.
Skarlet starrte ihn verständnislos an. »Was …?«
»Entschuldige mich bitte.« Er zwinkerte ihr zu.
Sie sah ihm nach, wie er zum Ausgang eilte, auf dem Weg dem Oberkellner winkte, ein paar Worte mit ihm wechselte, etwas auf einen Zettel schrieb, den er dem Ober reichte, und schließlich durch die Tür verschwand. Skarlet blieb ziemlich ratlos inmitten all der barocken Pracht sitzen und fragte sich, was sie gerade verpasst hatte.
»Madame?«
Sie wandte erschrocken den Kopf. Der Oberkellner stand neben ihr, beugte sich zu ihr hinunter, um nicht laut sprechen zu müssen. »Herr Benda bat mich, Ihnen das hier zu geben.« Er reichte ihr ein kleines Blatt Papier, das sie entfaltete. Kleine, präzise Druckbuchstaben, karge Sätze, die nichts erklärten: Verzeih, Skarlet. Wir holen alles nach. Danke für dein Vertrauen.
Sie faltete das Papier wieder zusammen und starrte es nachdenklich an. Was in aller Welt sollte das? Sie einfach so hier sitzen zu lassen! Er hatte nichts erklärt, sich noch nicht einmal verabschiedet. Empörung stieg in ihr hoch. Der Ober räusperte sich leise. Er stand noch immer neben ihr. Sie sah ihn an. Er lächelte. Ihr Blick wanderte von ihm auf den Tisch. Ihr Grappa war leer. Schade. Ein Schluck von etwas Hochprozentigem hätte jetzt gut getan. Die Rechnung, fiel es ihr ein. Sie musste wohl das Abendessen übernehmen. Auch das noch. Sie griff verärgert nach ihrer Handtasche. »Tja, dann bringen Sie mir bitte die Rechnung«, sagte sie unsicher. Ihre Stimme zitterte ein bisschen, ihre Wangen glühten. Die Situation war ihr ziemlich peinlich. Sie versuchte trotzdem ein souveränes Lächeln.
»Das ist bereits erledigt, Madame«, erwiderte der Ober mit einer Selbstverständlichkeit, als käme es alle Tage vor, dass eine Frau von ihrem Begleiter nach dem Nachtisch und vor der Rechnung im Stich gelassen wird. »Soll ich das Taxi gleich rufen, oder möchten Sie noch einen Kaffee? Ein Glas Champagner? Oder vielleicht«, er zwinkerte leicht, »einen kleinen Whisky? Herr Benda hat mich gebeten, Ihnen alle Wünsche zu erfüllen.« Der Ober lächelte fast unmerklich, aber ausgesprochen freundlich. Skarlet gelangte zu der Überzeugung, dass er die Situation im Gegensatz zu ihr offenbar wirklich völlig normal fand. Vermutlich sollte sie das auch tun.
Sie sah ihn nachdenklich an, dann lächelte sie, bat um einen Espresso und – mit einem schelmischen Zwinkern – um einen Whisky. Das Taxi könne noch ein bisschen warten, fügte sie hinzu. Anschließend lehnte sie sich in ihrem Stuhl zurück und überlegte, was das alles sollte und – vor allem – was sie von Felix’ seltsamem Abgang halten sollte. Als der Ober den Espresso und den Whisky brachte, war sie bei ihren Überlegungen noch keinen Schritt weitergekommen. Ihr Kopf war leer, absolut leer – bis auf ein riesiges Fragezeichen, das in ihrem Hirn herumtanzte wie das Pausenbild auf ihrem PC . So musste sich das Nirwana anfühlen, dachte sie halb verblüfft, halb amüsiert, nichts zu denken, nichts zu fühlen und sich doch unglaublich lebendig zu fühlen. Verrücktes Gefühl. Erstaunlicherweise war sie Felix noch nicht mal wirklich böse. Ihre Empörung war so schnell verflogen, wie sie aufgetaucht war. Sie war nur noch schrecklich neugierig, was er ihr später – wann auch immer das sein würde – erzählen würde. Du bist schon ein verrücktes Huhn, dachte sie. Sein plötzliches Verschwinden musste mit diesem Engel zu tun haben. Seltsam, er ist Finanzbeamter, was in aller Welt … Sie löffelte etwas Zucker in den Kaffee, trank ihn auf einmal aus und kippte den Whisky hinterher. Der Alkohol brannte angenehm in ihrem Magen. Egal, sie würde das Problem heute Abend alleine nicht mehr lösen, sie musste warten. Sie seufzte kokett, dann nickte sie dem Ober zu. Auch um das Taxi hatte Felix sich gekümmert, wie sie kurz darauf feststellte. Der Ober war mit ihr nach unten gegangen, hatte sie um das Ziel ihrer Fahrt
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