Reinheit: Chronik der Freiheit - Band I (German Edition)
zwischen den Zügen herumliefen und Koffer hinter sich her zogen. Auch sie waren lebendig.
Der Mann nahm mir gegenüber Platz.
„Es ist eine komische Stimmung hier. Hier wirkt alles so anders, weißt du?“
Der Mann nickte mir zu, während ich noch immer aus dem Fenster sah. „Ich kann deine Gefühle gerade durchaus verstehen. Für dich muss das hier eine komplett neue Welt sein.“
Ich nickte. Wollte die Stimmung in mich aufsa ugen und sie nie wieder vergessen, denn zum ersten Mal wusste ich, was Hoffnung ist.
Als sich der Zug in Bewegung setzte, verließ er die Station und tauchte in einen schwarzen Tunnel ein. Nun gab es nichts mehr zu sehen. Lediglich das leise Summen des Zuges selbst war noch zu ve rnehmen.
Ich starrte auf meine Hände. Irgendwie musste ich mich ablenken. Hin und wieder glitt mein Blick auch zu meinem Begleiter ab. Er saß dort und sah unentwegt auf sein kleines Gerät.
„Was ist das?“, fragte ich neugierig.
Er sah mich kurz an, dann wanderte sein Blick wieder auf das Gerät. „Man nennt es Smartph one.“
Das war nicht sehr hilfreich. Scheinbar wollte er gerade kein Gespräch führen.
„Es ist im Grunde ein sehr kleiner Computer, weißt du“, führte er fort.
Ich starrte weiter auf meine Hände. Meine G edanken waren jedoch nicht leer. Ich hatte meine Mutter vor Augen, da war sie noch lebendig.
Wer hatte ihr das angetan?
„Worüber denkst du nach?“
Ich erschrak und fixierte meinen Begleiter. „Über meine Mutter, meine Vergangenheit.“
„Diese Frau in der Wohnung war deine Mutter, oder?“
Ich nickte nur.
„Tut mir leid. Scheinbar haben sie dir wohl auch so einige Sachen genommen.“
„Ich weiß nicht, ob sie es waren oder vielleicht irgendwelche Banditen, die meinten, dass es bei uns noch etwas zu holen gäbe.“
„Die Frage ist doch, wo liegt der Unterschied? Sowohl die Banditen als auch die Regierung wollen uns Schaden zufügen.“
„Jetzt solltest du mal raus schauen.“
Die Stimme meines Begleiters riss mich rüde aus dem Schlaf. Er saß mir noch immer gegenüber und deutete nun mit seiner Hand nach draußen.
Und zum ersten Mal in meinem Leben sah ich das weite Meer. Ich sah die enorme Leere, die sich langsam über die ganze Welt ausbreitete.
Niemals zuvor habe ich so viel Fläche gesehen.
„Das ist der Ärmelkanal. Er trennt die Britischen Inseln vom Festland.“
„Das ist also nicht einmal das Meer?“
„Nein, das Meer ist sehr viel größer.“
Noch größer? Wie sollte das möglich sein?
Es war eine angenehme Reise. Die Fahrt war kaum spürbar, obwohl wir uns so unglaublich schnell fortbewegten.
„Wie lange werden wir noch fahren?“
„Es wird noch etwas dauern.“
„Sir, wir haben das Ziel scheinbar gefunden. Sie befindet sich in einem Zug, der direkt hierher fährt.“
Ein schelmisch böses Grinsen glitt über das Gesicht des Mannes.
„Sollen wir den Zug stoppen?“
Er schüttelte den Kopf. „Nein, lasst sie hier ankommen und dann nehmt sie fest.“
„Wird gemacht.“
Sie hat es weit geschafft, aber irgendwann stößt auch sie an ihre Grenzen.
Akt II
Ich muss erneut eingeschlafen sein. Ein Rütteln riss mich aus dem Schlaf und als ich die Augen geöffnet hatte, sah ich meinen Begleiter, der mich freundlich anlächelte.
„Wir sind da, Serah.“
Sofort schoss mein Blick in Richtung des Fensters und wieder erblickte ich ein paar Gleise, emsige Reisende und das pure Leben.
Mein Begleiter öffnete bereits die Tür zum Abteil. Vor ihr hatte sich bereits eine Menschenschlange gebildet. Gut gekleidete Reisende mit ihrem Gepäck warteten darauf, den Zug verlassen zu können.
„Komisch. Normalerweise geht das sonst viel schneller“, bemerkte der Mann gedankenversu nken, der direkt vor unserem Abteil stand.
Doch eine Frau, die etwas weiter vorn in der Schlange stand, hatte schon eine Erklärung: „Da draußen werden Kontrollen durchgeführt. Die suchen scheinbar jemanden.“
Ein leises Murren schien sich durch die ganze Schlange zu bewegen und mein Begleiter sah mich besorgt an.
Er schloss kurzerhand die Tür.
„Meinst du, sie suchen mich?“, fragte ich ebenfalls besorgt.
Er zuckte mit den Schultern. „Wir haben dich auf legalem Weg ausreisen lassen. Eigentlich dürfte es keine Probleme mit uns geben.“
„Wir können den Kontrollen doch sowieso nicht ausweichen, oder?“
Der Mann blickte auf das Fenster, das sich hinter mir befand und ich wusste sofort,
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