Reise im Mondlicht
zuverlässigste
und in einer gewissen Hinsicht anständigste Einnahmequelle. Einmal jedoch gelang es ihr, aus der Kasse der Konditorei zehn
Kronen herauszuholen, worauf sie sehr stolz war. Und dann gab es bestimmt auch Fälle, die sie nicht erzählte. Sie stahl auch
von mir. Als ich es merkte und mit einiger Bitterkeit protestierte, belegte sie mich mit einer Steuer; ich mußte wöchentlich
einen bestimmten Betrag in den Familienfonds einzahlen. Tamás durfte selbstverständlich nichts davon wissen.«
Hier bemerkte Erzsi:
»Moral insanity.«
»Ja, gewiß«, fuhr Mihály fort. »Solche Fachausdrücke sind sehr beruhigend. Und auch entlastend. Es ist kein Diebstahl, sondern
eine psychische Krankheit. Aber Éva war weder geisteskrank noch eine Diebin. Bloß hatte sie keinerlei Skrupel, was das Geld
betraf. Die beiden Ulpius-Geschwister standen so weit außerhalb der Welt, außerhalb der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen
Ordnung, daß sie keine Ahnung hatten, welche Art der Geldbeschaffung gestattet war und welche nicht. Das Geld existierte für
sie gar nicht. Sie wußten bloß, daß man für Papierschnitzel, und zwar nicht einmal sehr schöne, und für kleine Scheiben aus
Silber ins Theater gehen konnte. Die große, abstrakte Mythologie des Geldes, die Grundlage der religiösen und moralischen
Gefühle des modernen Menschen, und dazu die Opferriten des Geldgottes: die ›ehrliche Arbeit‹, die Sparsamkeit, die Geldvermehrung,
das alles war ihnen unbekannt. So etwas ist einem angeboren, aber bei ihnen war das nicht der Fall; oder man lernt es zu Hause,
so wie ich, sie aber lernten zu Hause höchstens die Geschichte der Häuser auf der Burg, vom Großvater.
Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie realitätsfern sie waren, wie sehr sie vor jeglichem praktischen Aspekt des Lebens
zurückschreckten |29| . Eine Zeitung sah man in ihren Händen nie, sie hatten keinen blassen Schimmer, was in der Welt geschah. Obwohl gerade der
Weltkrieg geschah, was sie aber nicht interessierte. In der Schule stellte sich einmal beim Abfragen heraus, daß Tamás noch
nie von István Tisza gehört hatte. Und als Przemysl fiel, dachte Tamás, es handle sich um einen russischen General, und drückte
höflich seinen Beifall aus; er wurde fast verprügelt. Später diskutierten die intelligenteren Jungen schon über Ady und Babits;
Tamás meinte, alle redeten immer nur von Generälen, und so dachte er auch von Ady noch lange, er sei ein General. Die intelligenteren
Jungen, so wie auch seine Lehrer, hielten Tamás für dumm. Seine besondere Begabung, sein geschichtliches Wissen, blieb in
der Schule gänzlich unbekannt, was er übrigens nicht im geringsten bedauerte.
Sie standen überhaupt in jeglicher Hinsicht außerhalb der gewöhnlichen Ordnung des Lebens. Es konnte geschehen, daß sich Éva
nachts um zwei an ihr Französischheft erinnerte, das sie in der Woche zuvor auf dem Svábhegy hatte liegenlassen, und so standen
beide auf, zogen sich an, stiegen auf den Svábhegy und spazierten bis zum Morgen dort umher. Am nächsten Tag fehlte Tamás
in der Schule, königlich gelassen. Éva stellte ihm ein Entschuldigungsschreiben aus, inklusive Unterschrift des Vaters. Sie
selbst ging überhaupt nicht zur Schule, sie hatte keinerlei Beschäftigung, sondern vergnügte sich allein, wie eine Katze.
Man konnte bei ihnen auftauchen, wann man wollte, man störte sie nie, sie machten weiter, woran sie gerade waren, als wäre
man gar nicht da. Auch nachts war man willkommen, aber als Gymnasiast durfte ich in der Nacht keine Besuche machen, höchstens
nach dem Theater, für eine kurze Weile – und ich träumte fortwährend davon, bei ihnen zu übernachten. Nach dem Abitur blieb
ich oft über Nacht dort.
Später habe ich in einem englischen Essay gelesen, daß ein Hauptcharakterzug der Kelten in der Auflehnung gegen die Tyrannei
der Tatsachen bestand. In dieser Hinsicht waren die beiden Ulpius Kelten. Nebenbei bemerkt, schwärmten sowohl Tamás als auch
ich für die Kelten, für die Gralslegende und Parzival. Wahrscheinlich |30| fühlte ich mich deshalb so wohl bei ihnen, weil sie so keltisch waren. Bei ihnen fand ich mich selbst. Jetzt wußte ich, warum
ich mir zu Hause immer so peinlich fremd vorkam. Weil dort die Tatsachen herrschten.Wirklich zu Hause war ich bei den Ulpius.
Ich ging jeden Tag zu ihnen und verbrachte die ganze Freizeit dort.
Als ich in die Atmosphäre jenes Hauses
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