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Schiffsmeldungen

Titel: Schiffsmeldungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annie Proulx
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1
    Quoyle
    Quoyle: Taurolle
    »Eine Flämische Scheibe ist eine spiralige Rolle in einer einzigen Ebene. Sie wird in dieser Art auf Deck gemacht, so daß man, wenn nötig, drüber gehen kann.«
     
    DAS ASHLEY-BUCH DER KNOTEN

    Im folgenden ein Bericht über einige Jahre im Leben von Quoyle, geboren in Brooklyn und aufgewachsen in einem Sammelsurium öder Städte im Norden des Staates New York.
    Übersät mit Quaddeln, die Eingeweide in Aufruhr vor Gasen und Krämpfen, überlebte er die Kindheit; an der Universität überspielte er, die Hand vorm Kinn, Qualen mit Lächeln und Schweigen. Stolperte durch seine Zwanziger in die Dreißiger, lernte seine Gefühle von seinem Leben zu trennen, rechnete auf nichts. Er aß ungeheuer viel, mochte Eisbein, Butter-kartoffeln.
    Seine Tätigkeiten: Auffüller von Süßigkeitenautomaten, Nachtverkäufer in einem rund um die Uhr geöffneten Laden, drittklassiger Reporter. Mit sechsunddreißig, verwitwet, voll Kummer und glückloser Liebe, steuerte Quoyle davon nach Neufundland, zu dem Felsen, der seine Vorfahren gezeugt hatte, an einen Ort, wo er nie gewesen war noch jemals hatte sein wollen.
    Ein Ort am Wasser. Quoyle hatte Angst vor Wasser, konnte nicht schwimmen. Immer wieder hatte sein Vater seinen Klammergriff gelöst und ihn in Becken, Bäche, Seen und Gischt geworfen. Quoyle kannte den Geschmack von Brackwasser und Wasserpest.
    In der Unfähigkeit seines jüngsten Sohnes, schwimmen zu lernen, sah der Vater anderweitige Unfähigkeiten sich ausbreiten wie eine Explosion ansteckender Zellen – Unfähigkeit, deutlich zu sprechen, Unfähigkeit, gerade zu sitzen, Unfähigkeit, morgens aufzustehen, Unfähigkeit, sich durchzusetzen, Unfähigkeit, Ehrgeiz und Talent zu entwickeln, ja zu allem. Seine eigene Unfähigkeit.
    Quoyle schlurfte, war einen Kopf größer als die Kinder um ihn herum, war weich. Er wußte es. »Ach, du Trampel«, sagte der Vater. Aber selber kein Pygmäe. Und Bruder Dick, Vaters Liebling, tat, als würde er sich erbrechen, wenn Quoyle ins Zimmer kam, zischte: »Speckarsch, Rotzgesicht, Ekelschwein, Warzensau, Blödian, Stinkbombe, Furztrog, Fett-sack«, boxte und trat ihn, bis Quoyle sich, Hände über dem Kopf, schniefend, auf dem Linoleum krümmte. Alles kam von Quoyles schlimmster Unfähigkeit, der Unfähigkeit, normal auszusehen.
    Ein großer feuchter Laib von Leib. Mit sechs wog er siebzig Pfund. Mit sechzehn war er unter einem Gehäuse aus Fleisch begraben. Der Kopf wie eine Melone, kein Hals, rötliche, nach hinten gewellte Haare. Gesichtszüge so verkniffen wie sich berührende Fingerspitzen einer Hand. Augen wie Plexiglas. Das monströse Kinn, ein grotesker Vorsprung, der aus der unteren Gesichtshälfte ragte.
    Im Augenblick seiner Zeugung hatte irgendein anomales Gen gezündet, wie manchmal ein einzelner Funke aus mit Asche belegten Kohlen sprüht, hatte ihm das Kinn eines Riesen mitgegeben. Als Kind erfand er Strategien, um starrende Blicke abzulenken; ein Lächeln, gesenkter Blick, die rechte Hand schoß nach oben, um das Kinn zuzudecken.
    Sein frühester Eindruck von sich selbst war eine ferne Gestalt: Dort im Vordergrund stand seine Familie; hier an der äußersten Sichtgrenze stand er. Bis vierzehn hegte er die Vorstellung, daß er in der falschen Familie gelandet war, daß sich irgendwo seine echten Verwandten, mit dem Wechselbalg der Quoyles geschlagen, nach ihm sehnten. Dann, als er in einer Schachtel mit Schnappschüssen von einem Ausflug wühlte, fand er Fotos von seinem Vater neben seinen Geschwistern an einer Reling. Ein Mädchen, etwas abseits von den anderen, schaute aufs Meer hinaus, die Augen zusammengekniffen, als könnte sie tausend Meilen im Süden den Bestimmungshafen sehen. Quoyle erkannte sich in Haaren, Armen und Beinen aller wieder. Dieser verschlagen aussehende Klotz im eingelaufenen Pullover, die Hand am Schritt – sein Vater. Mit blauem Stift auf die Rückseite gekritzelt: »Abschied von Zuhause, 1946«.
    Auf der Universität besuchte er Seminare, die er nicht begriff, schleppte sich hin und wieder fort, ohne mit jemandem zu reden, fuhr am Wochenende zu Spott und Kritik nach Hause. Schließlich ging er von der Universität ab und suchte sich Arbeit, behielt die Hand über dem Kinn.
    Nichts war dem einsamen Quoyle klar. Seine Gedanken stampften wie das unförmige Ding, das die alten Seeleute, wenn sie ins Halblicht der Arktis trieben, Seelunge nannten; wogendes Treibeis unter Nebel, wo Luft und Wasser verschwammen, wo

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