Reisende auf einem Bein
schrieb Marburg auf einen Umschlag. Mit großen Buchstaben, als hätte das gereicht. Dann die Anschrift von Franz.
Vor dem Briefkasten war Irene verwirrt. Unter dem Schlitz stand: Andere Richtungen. So groß stand Andere Richtungen auf dem Briefkasten, wie Marburg auf dem Umschlag stand.
Die Karte mit dem Schwimmbad lag auf dem Küchentisch. Irene schob die Hand unter die Stelle, wo der Mann gesessen hatte. Sie sah ihren Fingernagel.
Es wäre die Geschichte eines abseits liegenden Fingernagels geworden, wenn Irene die Karte mit dem Schwimmbad nicht aus der Küche ins Zimmer getragen hätte.
Die Karte lag neben einem Mann, den man nur von hinten sah, neben einem Fisch.
Das Geländer einer hohen Straße neben einem Mann, der einen weißen Handschuh durch den Park trug. Ein alter Mann, der auf einer Bank unter leerem Himmel Zeitung las, neben einem Kirchturm. Ein großer Daumennagel neben einem fahrenden Bus. Eine Armbanduhr neben einem aufgerissnen Tor, vor dem Kopfsteinpflaster ins Leere führte. Ein Riesenrad mit fliegenden Leuten neben einem fernen Wasser. Ein Flugzeug am Himmel neben einer Hand. Ein Gesicht,das flog von der Geschwindigkeit neben einem Mädchen im Schaukelstuhl. Eine Hand, die auf den Revolver drückte neben einem Mann, der auf dem Fahrrad durch das Spiegelbild der Bäume fuhr. Ein schreiender Mund, der bis zu den Augen reichte. Zwei Männer mit Schirmmützen, die stehend aufs Wasser schauten. Eine alte Frau, die auf dem Balkon über der Stadt saß. Eine Frau mit schwarzer Sonnenbrille. Ein Toter im Anzug. Eine Wassermühle. Ein durchwühltes Zimmer. Ein Junge im Matrosenanzug. Eine wimmelnde Einkaufsstraße. Eine Drehtür im steinigen Gebirge.
Irene schnitt Photos aus Zeitungen aus. Die Ränder waren selten gerade geschnitten. Daher waren sie selten schwarz. Wo Irenes Hand gezittert hatte, sah der Rand so aus, als nehme die Zeitung das Photo zurück ins Papier.
Irene klebte die Photos auf einen Bogen Packpapier nebeneinander. Sie mußte lange suchen und vergleichen, bis zwei Photos zusammenfanden. Fanden sie einmal zusammen, taten sie das von selbst.
Die Verbindungen, die sich einstellten, waren Gegensätze. Sie machten aus allen Photos ein einziges fremdes Gebilde. So fremd war das Gebilde, daß es auf alles zutraf. Sich ständig bewegte.
So fremd war das Gebilde, daß es den Punkt traf, an dem das Lachen des Mädchens im Schaukelstuhl denselben Abgrund auftat wie der Tote im Anzug.
Irene hängte das Bild an die Küchenwand. Sie saß am Küchentisch. Ihre Blicke waren Schritte.
Irene suchte eine Hauptperson in dem Gebilde.
Die Hauptperson war ein Gegenstand: das aufgerissne Tor, vor dem Kopfsteinpflaster ins Leere führte.
Der Küchentisch stand auf dem Kopfsteinpflaster. So, wie der alte Mann unter leerem Himmel die Zeitung in der Hand hielt, hielt Irene Messer und Gabel.
Das Schneiden, das Kauen und Schlucken ging knapp an Irenes Gedanken vorbei. Streifte flüchtig Irenes Mund, daß sie nicht wußte, was es gewesen war.
Die Drehtür stand still. Sie starrte aus dem steinigen Gebirge in den Teller.
Ein einziges Photo war übriggeblieben. Es paßte nicht ins Gebilde.
Es war das Photo eines jungen Mannes. Der hatte eine dunkle Stirn, glänzende Augen. Er hielt die Hand auf der Brust, daß man die weißen Nagelwurzeln seiner Finger sah. Seine Lippen standen halb offen.
Der Mann war Politiker. Er hatte seine Macht verloren. Kurz darauf war er gefunden worden in einem Luxushotel am Ufer eines Sees.
Der Politiker war jung und tot. Mord oder Selbstmord, man wußte es nicht.
An diesen Tagen waren die Politiker am Fernsehschirm fremder denn je. Sie suchten einander und waren verstört. Wie Libellen am Rand eines Kahns saßen sie am Rand der Tische.
Die Tische schaukelten. Die Politiker zeigten Bestürztheit. Doch ihre Stirn war dunkel von der Macht. Ihre Augen glänzten von der Verzweiflung. Und weißer, immer weißer wurden ihre Nagelwurzeln von der Heuchelei.
Einen halben Tag lag das Photo des toten Politikers allein in Irenes Zimmer auf dem Fußboden.
Irene kämmte sich. Sie sah das Photo im Spiegel.Den Kamm in der Hand legte Irene das Photo mit dem Gesicht nach unten.
Irene schloß die Wohnungstür. Gehend knöpfte sie den Mantel zu. Ihre Schritte klangen auf den Treppen zweifach.
Die Kälte kam von innen. Der Mantelkragen trieb sie an den Hals. Irenes Haar fror. Die Kopfhaut schmerzte.
Im Innenhof sah sie noch einmal hinauf zu den Fenstern. Spürte feuchtkühle Flecken unter
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