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Reisende auf einem Bein

Reisende auf einem Bein

Titel: Reisende auf einem Bein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herta Mueller
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standen.
    Irene berührte den Ärmel eines Pelzmantels. Der war weich, als würde er atmen.
    Zwei Schritte lang ging Irene unter einem roten Regenschirm.
    Von welcher Gegend redeten die beiden Rücken, fragte Irene laut. Von welchem Hang.
    Der Junge auf der anderen Straßenseite trug eine alte Lederjacke. Er redete auch mit den Händen.
    Das Mädchen trug eine Schulmappe. Schwieg und nickte.
    Vor einem Tor ging das Mädchen, ohne sich zu verabschieden, in einen dreckigen Innenhof.
    Der Junge stand vor dem offenen Tor und sah ihr nach.
    Wer diesen Innenhof nicht anders als mit einem Bräutigam verläßt und wer sich eine Braut aus diesem Winkel zieht, der wird nicht glücklich.
    Der Junge stand noch da.

8
    FRANZ war zu Besuch.
    Neben Irene war das Kissen leer.
    Das Bettuch zerknüllt. Franz war aufgestanden. Er hatte Geräusche gemacht, die sich mit Irenes Traum vertrugen.
    Erst, als Franz am Fenster stand und keine Geräusche machte, war Irene aufgewacht.
    Der Schrank glänzte. Das Holz war so hell, daß es ein bißchen Schatten nötig hatte.
    Franz sah in den Innenhof. Das Muster des Teppichs floß langsam unter den Tisch. Die Tischdecke regte sich.
    Franz zerdrückte dürre Blätter in der Hand. Riß gelbe Blätter von den Zweigen der Topfpflanze. Hinter seinem Nacken wirbelte Staub. Oder war es die Sonne im Zimmer.
    Jetzt weiß ich, sagte Franz, was mir in deiner Wohnung fehlt. Mir fehlt unterm Fenster die Straße.
    Irenes Antwort steckte in der Kehle, bis ihre Augen unten im Innenhof das Gras erreichten. Das Gras war gegen sie, und der Holunder war gegen sie. Auch der Salzrand an den Wänden.
    Das macht mich nervös, sagte Franz. Ein Haus ohne Straße.
    Irene suchte mit den Blicken die Wäscheleine ab. Sie war leer und bewegte sich.
    Ich weiß, sagte Irene, es ist keine Ruhe in diesem Hof, es ist bloß Stille.
    Franz legte die gelben Blätter aufs Fensterbrett:
    Ja, und es ist meine Unruhe, die diese Stille nicht erträgt. Du weißt nicht, was ich meine. Du hast gute Nerven.
    Irene wollte zum Tisch gehen, statt etwas zu sagen. Konnte die Schritte nicht gehen, weil Franz sie anschaute und schwieg.
    Irene lehnte sich langsam zurück, als dürfe der Schrank sie nicht spüren:
    Ich kann nichts dafür.
    Am Abend ging Irene hinaus auf die Straße.
    Eine Zigarette glimmte auf dem Gehsteig, als wäre jemand verschwunden an der Stelle.
    Irene dachte beim nächsten Atemzug: Franz wird nie wiederkehren.
    In den Augen der Passanten stand nur das Augenweiß. Die Pupillen hatten sich in die Dunkelheit gestohlen. Die Gesichter, einzelne Gesichtsteile waren beleuchtet, die Gesichter hielten nicht stand.
    Wegen der Dunkelheit sahen die beleuchteten Gesichtsteile wie Schatten aus.
    Die Blätter der Bäume waren die Rückseite der Blätter. Die Bäume waren die Rückseite der Bäume. Die ganze Stadt war die Rückseite der Stadt.
    Ein Mann stand an der Ecke. Seine Mantelärmel waren zu kurz. Seine Handgelenke zu dick. Er trug eine Aktentasche. Die war flach und leicht.
    Der Mann flüsterte, als Irene vorbeiging. Seine Stimme war weich. Seine Augen glänzten. Sein Blick war kalt. Der Mann verschwand in der Toilette. Irene hörte ihn reden hinter der Tür.
    Sie drückte die Finger fest um den Wohnungsschlüssel in der Manteltasche: Eine Pfütze schimmerte. Kräuselte sich. Irene sah das Glied des Mannes in der Pfütze stehen. Und wie sich das Wasser vor und zurückschob.
    Das Knacken eines dürren Zweigs unter dem Schuh hatte die Unberechenbarkeit eines Überfalls.
    Im Gardinenladen hatte Irene noch nie einen Kunden gesehen. Eine Stehlampe brannte neben braunem Samt.
    Auf der Fahrbahn lag eine weiße Plastiktüte. Ein Wagen, der vorbeifuhr, scheuchte sie auf. Sie fiel zu Boden. Sie überschlug sich nicht.
    Irene hörte drei gleiche Töne auf der anderen Straßenseite. Kurze, gleiche Pfiffe. Und Schritte dazwischen. Sie sah die Aktentasche.
    Der Mann kannte das Spiel in der Pfütze nicht, in der sich das Wasser vor und zurückschob. Seine Gier war nicht gestillt. Oder war sie es doch. Gestillte Gier.
    Wenn es so war, trieb ihn das Gleichgewicht weiter in die Nacht. Dieses Gleichgewicht verlangte Angst.
    Das Pfeifen dieses Mannes war, wie über Leichen gehn und singen.
    Dann stand Irene vor einer Kneipentür.
    Wenn Irene wie jetzt allein in eine Kneipe trat, überfiel sie Unbeholfenheit. Kaum hatte sie sich an einen Tisch gesetzt, fragte sie sich, weshalb sie gekommenwar. Nicht um zu essen, nicht um zu trinken, nicht um zu sitzen,

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