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Reisende auf einem Bein

Reisende auf einem Bein

Titel: Reisende auf einem Bein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herta Mueller
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Kriege überlebt. Irene berührte sie nicht. Kleiderbügel wie Schultern.
    Das Tuch war hart. Hatte jahrelang Haut bedeckt. Hatte Menschen hinein in die Straßen der Städte gejagt. Hatte Staub gefressen. Hatte beim Schuften zugesehen, beim Rauchen und Trinken. Hatte in Winkeln gehangen. Neben Betten gelegen. Es roch nach Armut und eiliger Liebe, das Tuch.
    Das Etikett mit dem Preis rieb der Frau mit dem pinkroten Haar am Nacken. Es sah aus wie eine Feldpostkarte.
    Die Frau bezahlte den grünen Mantel. Riß die Feldpostkarte ab. Zog den Mantel an. Ging hinaus auf die Straße.
    Sie ging sehr rasch. Immer rascher. Fing zu laufen an. Die Treppen runter in den Schuhladen. Sie benutzte die Rolltreppe nicht.
    Es war mehr Unruhe als Eile in ihren kleinen Schritten.
    Alles was die Frau im grünen Mantel tat, hatte die Unruhe der wachsamen Gefährdung.
    Sie ging an den Spiegeln entlang. In den blinden Streifen standen Schuhe. In den Spiegelstreifen gingen die Augen der Frau. Ihre Haarspitzen. Ihr Hals.
    Über dem Haar der Frau stand: Große Chancen für kleine Füße.
    Die Frau nahm einen Schuh aus dem Regal. Sie wog ihn in der Hand. Sie schaute die Schuhsohle an. Stellte den Schuh zurück. Sie wog einen zweiten und einen dritten Schuh in der Hand und schaute die Schuhsohle an. Und stellte die Schuhe zurück.
    Das Gewicht der Schuhe war der Preis. Der stand auf der Schuhsohle.
    Im Schuhladen kreiste Musik. Die war lauter, wenn Irene nahe neben dem Regal stand.
    Irene bewegte sich nicht, um der Gleichmäßigkeit der Takte zu entgehen.
    Die Frau hatte den fünften Schuh in der Hand gewogen und umgedreht. Sie stellte ihn nicht zurück. DieFrau zog ihren eigenen, von der Straße mitgebrachten Schuh aus.
    Der Strumpf der Frau hatte an der großen Zehe ein Loch. Sie krümmte die Zehe, als ob sie die Finger versteckte. Sie suchte im Spiegelstreifen einen Blick. Nicht ihren eigenen und nicht Irenes Blick suchte sie. Sie suchte den Blick der Verkäuferin. Die war hier im Laden zu Hause. Die hatte das Maß aller Dinge. Das Maß der Schuhe und das Maß der Preise.
    Das Maß der Frauen, die in den Laden kamen und vor ihr den Strumpf entblößten, hatte die Verkäuferin.
    Die Verkäuferin stellte mehr Schuhe nebeneinander, als das Regal lang war.
    Die gleichen Schuhe, die Irene trug, standen im Regal.
    Die Musik klang müde. Hing wie schwere Luft im Raum. Als wäre dem Text die Melodie zuwider.
    Die Verkäuferin blies Staub von den Schuhen.
    Die Frau mit dem pinkroten Haar war weg. Auf die Straßen hinaus, in die Stadt gegangen.
    Irene ging auf die Tür zu. Ging langsam, um nicht aufzufallen. Sie wollte nicht weggehen. Sie wollte verschwinden, wie die Frau verschwunden war.
    Irene wartete auf die Stimme der Verkäuferin.
    Die haben Sie gestohlen, würde die Stimme sagen. Und auf Irenes Schuhe zeigen.
    Irene schwitzte. Sie wußte, sie würde diesen Satz nicht leugnen.
    Sie würde die Beschuldigung nicht zurückweisen. Sie würde schweigen.
    Sie würde der Verkäuferin glauben. Sich erinnern,daß sie von zu Hause auf den Strümpfen weggegangen war. Daß der Gehsteig voller Sand und feucht gewesen war. Daß die Zigarettenkippen ein paar Schritte an den Strümpfen hingen. Irene fing zu laufen an.
    Grün und schwarz gesprenkelte Steinchen rieselten auf den Asphalt. Schlugen auf wie Hagel. Liefen auseinander.
    Irenes Halskette war zerrissen.
    Sie bückte sich. Spürte, wie den Rücken runter Steinchen liefen, als löse sich die Wirbelsäule auf.
    Sie richtete sich auf. Schaute die Wand des Ladens hinauf. Über dem Schaufenster standen Balkone.
    Zwei Männer gingen vorbei. Sprachen miteinander. Sie traten nicht auf die Steinchen.
    Es hat die ganze Nacht durchgeschneit, sagte der eine, wir haben am Morgen unsere Namen auf den Hang geschrieben.
    Liebe im Winter, sagte der andere.
    Irene horchte den Sätzen nach. Die beiden Rücken entfernten sich. Einzelne Passanten gingen rasch vorbei. Ohne eigene Gedanken. Den Rücken nach, um dem Gespräch zu folgen.
    Die fahrenden Autos zerstäubten nasse Luft. Sie war kühl auf den Wangen.
    Die beiden Rücken waren klein von der Entfernung. Und enger zusammengerückt. Ein Fahrrad überholte sie.
    Ein Steinchen der Halskette hatte sich verspätet. Fiel erst jetzt auf Irenes Schuh.
    Irene ging in die Gegenrichtung der beiden Rücken. Ging aus dem Gespräch hinaus. Hörte angestrengt wegvon den Sätzen der Passanten. Sie horchte den fahrenden Autos nach. Die schaukelten, wenn die Ampel rot war, bevor sie

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