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Reisende auf einem Bein

Reisende auf einem Bein

Titel: Reisende auf einem Bein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herta Mueller
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nicht um zu reden. Vielleicht, um von der Straße her in einen Raum zu gehen.
    Wenn Irene atmen wollte, war die Luft mit Holz und Wand und mit Blicken gefüllt. Alles stellte sich quer durcheinander.
    Die Gesichter hatten das Schauen und Trinken mit Irene gemeinsam.
    Manchmal wünschte sich Irene mit diesen Blicken etwas zu teilen. Nur wußte sie nicht, ob sie das wollte. Und, was da zu teilen war. Die Gemeinsamkeit war unverbindlich. Die Beteiligung halb und langsam. Es hatte wenig Sinn, sie zu ertragen. Und es hatte wenig Sinn, sie zu fliehen. Vielleicht war Hinnehmen das Wort für das, was Irene tat.
    Oft zitterten Irenes Hände, wenn sie allein am Tisch saß und nach der Kaffeetasse griff. Ihre Augen schlossen sich oft. Wenn Irene zur Theke schaute, schienen die Flaschen in den Regalen zu schwimmen.
    Das Gesicht der Kellnerin schien zu altern, wenn Irene es ansah.
    Ich glaube, daß ich sehr alt bin, hatte Irene eines Abends in dieser Kneipe zu Stefan gesagt. Ich glaube das seit zwanzig Jahren. Als ich zehn Jahre alt war, hab ich mich oft gefragt, wie bringt man die Zeit hinter sich, bis man zwanzig ist.
    Zu alt, hatte Stefan gesagt.
    Nein. Sehr alt, nicht zu alt. Ich bin mir nicht zu alt.
    Sind Sie auch von gestern, fragte der Mann an der Theke. Ich mag Sie.
    An der Unterlippe des Mannes hing ein Haar.
    Von gestern. Ich meine damit, ich war heute nacht nicht zu Hause.
    Das Haar an der Unterlippe war nicht sein Haar. Ganz dunkel und biegsam. Er spürte es nicht.
    Ich bin heimatlos. Italiener. Ich bin in der Schweiz geboren. Die zweite Generation Ausländer.
    Ich bin nicht heimatlos. Nur im Ausland.
    Ausländerin im Ausland.
    Er lachte. Nur.
    Meine Kinder werden die dritte Generation.
    Werden.
    Sind.
    Wieviele, fragte Irene.
    Die dritte.
    Wieviele Kinder.
    Drei. Meine Frau.
    Ihre Frau.
    Nein, sie ist Deutsche. Sie versteht nicht.
    Daß Sie heimatlos sind.
    Kann sein.
    Daß Sie von gestern sind.
    Das Haar hing ins Glas.
    Aber Sie, aber du. Er nahm Irenes Hand.
    Das Haar zog sich über den Rand des Glases hin.
    Generationen, sagte Irene. Ich versuche manchmal an einen Menschen zu denken und schaff es nicht. Sie dachte an Franz.
    Einen Mann muß man mögen, um ein Haar von seinem Mund zu pflücken, dachte Irene. Man muß oft an ihn gedacht haben, und es muß Zeit vergangen sein.
    Sie wollte an nichts mehr denken, was diesen Mann betraf: Gleich wird er fragen, woran ich denk. Ich werde sagen: An nichts.
    Der Mann fragte das nicht.
    Ja oder nein, fragte er.
    Er hatte viele Sätze gesagt. Irene wußte nicht, worum es ging. Sie sah, daß sein Gesicht verquollen war.
    Sie haben recht, sagte Irene.
    Das sagen alle Frauen. Nachher bin ich allein.
    Der Mann lachte mit mehreren Stimmen zugleich.
    Irene schüttelte den Kopf.
    Also nein, sagte er.
    Er nickte.
    Vielleicht denkst du an mich, sagte er.
    Irene ging zum nächsten Briefkasten.
    Sie nahm eine Karte aus der Tasche und schrieb: Du, ich möchte manchmal, daß du näher bist als ein Schaufenster, oder ein Ast, oder eine Brücke. Doch schon während ich das denke, merk ich, wie ich dich immer mehr aus den Augen verlier.
    Beim Schreiben der Karten fielen Irene Sätze ein, die sie gar nicht im Kopf trug. Die sie nicht auf der Zunge hatte, wenn es um sie und die Straßen ging.
    Doch, wenn sich Irene an Franz wandte und auf sich bezog, hatte plötzlich alles außerhalb von ihr Eigenschaften.
    Der Asphalt war in seine Länge und Breite zurückverwiesen. Es war der Stillstand der Stadt, wenn der Asphalt Eigenschaften hatte. Sie war dann nur noch Gehsteig, oder Wand, oder Brücke.
    Die Stadt war eingedämmt, wenn der Asphalt Eigenschaftenhatte. Das gab Irene eine äußere Sicherheit.
    Doch aufgedeckt, hinaufgeschwemmt in den Kopf, wurde ihre eigene, innere Unsicherheit. Sie ließ sich nicht eindämmen.
    Stadt und Schädel war die Abwechslung von Stillstand und Bewegung.
    Wenn der Schädel stillstand, wuchs der Asphalt. Wenn der Asphalt stillstand, wuchs die Leere im Schädel.
    Mal fiel die Stadt über Irenes Gedanken her. Mal Irenes Gedanken über die Stadt.
    Irene überquerte die Straße bei Rot.
    Ein Mann holte sie ein. Er rauchte. Er ging langsam.
    Irene wollte den Mann an sich vorbei lassen. Er überholte sie nicht.
    Der Rauch zog ihr übers Gesicht. Irene drehte das Gesicht weg. Sie hörte das Atmen des Mannes. Und, daß er mit ihr im Gleichschritt ging. Sie wechselte den Schritt.
    Sie sah nur noch die Wände der Häuser an. Sie spürte, daß der Mann die Arme im selben

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