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Reisende auf einem Bein

Reisende auf einem Bein

Titel: Reisende auf einem Bein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herta Mueller
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Rhythmus bewegte wie sie. Sie bewegte die Arme nicht mehr.
    Es war dunkel. Das Gefühl, keine Arme zu haben, machte Irene schwindlig.
    Es ist, wie im Bett liegen und sich schlafend stellen, dachte Irene. Und es ist, wie aus Angst, etwas erzwingen.
    Noch ein paar Schritte, dachte Irene, und der Mann wird den Eindruck haben, daß ich zu ihm gehöre.
    Irene ging, um nicht zu dem Mann zu gehören, um die Ecke.

9
    IRENE HATTE THOMAS durch Stefan kennengelernt. Am Ufer des Landwehrkanals. Die Sonne war warm gewesen. Doch ihr Licht war schon in eine andere Jahreszeit gewendet.
    Vom Flohmarkt her kamen mit dem Wind die Stimmen der Trödler durch die Bäume. Und der Wind roch nach alten Kleidern und nach Staub.
    Der Flohmarkt war einer der vielen, von der Stadt vergessenen Orte, wo sich die Armut tarnte als Geschäft.
    An diesen Orten wuchsen die Gräser der Gegenden, in denen niemand wohnte: Brennessel, Distel, Schafgarbe. Das waren für Irene die Gräser des anderen Landes.
    Irene erschrak, wenn sie die Gräser des anderen Landes hier in der Stadt sah. Hatte den Verdacht, sie habe diese Gräser mitgebracht im Kopf. Um sich zu vergewissern, daß die Gräser nicht Einbildung waren, berührte Irene sie.
    Auch einen zweiten Verdacht hatte Irene. Daß sie das Heimweh klein und versponnen hielt im Kopf, um es nicht zu erkennen. Daß sie ihre Wehmut, wenn sie aufkam, unterwanderte. Und auf ihre Sinne Gebäude aus Gedanken stellte, um sie zu erdrücken.
    Thomas hatte an jenem Sonntag ein grünes Seidenhemdgetragen. Die Seide hatte die Farbe der Nesseln. Sie fing den Wind ein.
    Wegen diesem Hemd, das die Farbe der Nesseln hatte, und weil Irene die Nesseln suchte im Gras, war zwischen Thomas und Irene eine Nähe gewesen.
    Irene hatte diese Nähe gespürt. Doch kein Gedanke darüber war ihr durch den Kopf gegangen.
    Stefan sprach viel. Thomas sprach wenig. Irene hatte seine Stimme kaum gehört, als er seinen Namen sagte. Hatte den Namen nicht verstanden.
    Stefan hatte ihn laut und deutlich wiederholt. Zu laut und zu deutlich für Thomas’ Gleichgültigkeit.
    Von den Palästinensern hatte Stefan gesprochen. Von Gummigeschossen. Von Israelis und Wachhunden.
    Stefan hatte ein Steinchen vom Boden genommen. So groß sei das Eisen in der Mitte der Gummigeschosse, hatte er gesagt. Und tödlich.
    Durch die Sätze rauschten Autos. Schiefe Spiegelbilder lagen auf dem Wasser des Landwehrkanals. Die Möwen hörten den Lärm nicht mehr. Trippelten. Waren dreckig, gefräßig und zerzaust.
    Irene sah Rosa Luxemburg. Auf dem Wasser, schwarz und grau, wie Poren aus Zeitungspapier, lag das Gesicht.
    Thomas hatte das Steinchen aus Stefans Hand genommen.
    Trug es.
    Thomas hatte zwei Nächte nicht geschlafen. Er hatte seinen Freund verlassen. Oder der Freund ihn. Stefan wußte das nicht so genau.
    Beziehungskisten, hatte Stefan später zu Irene gesagt.Diese verdammten Abschiedsgespräche. Jeder weiß, es muß sein. Keiner, weshalb.
    Thomas war in eine der Straßen gezogen, wo man die Mauer sah, hatte Stefan gesagt.
    Irene kannte diese Straßen. Kleine Männer standen hinter Bergen aus Blättern und Gemüse. Das Obst leuchtete, weil die Straßen so eng waren. Apfelsinen verwirrten den Blick.
    Die Straßen waren dort so eng, als gehe man den Berg hinauf.
    Thomas wird sich wieder aufraffen, hatte Stefan gesagt. Er sei einiges gewohnt. Er habe eine Ehe hinter sich.
    Damals war Thomas noch nicht konsequent schwul, hatte Stefan gesagt. Ein paar Jahre hat er eine Frau geliebt.
    Und daß Thomas die Buchhandlung aufgegeben habe. Und daß er dieses Nest, hatte Stefan gesagt, verlassen habe.
    Doch das Kind, Thomas habe einen Sohn mit dieser Frau. Was mit diesem Kind war, hatte Stefan nicht gesagt.
    Es sind jetzt drei Jahre her, hatte Stefan gesagt. Und seit damals, seit drei Jahren ist Thomas arbeitslos.
    An dem Sonntag, als Irene Thomas kennengelernt hatte, war nur die Nähe entstanden zwischen Irenes Blick, der Nesseln suchte, und Thomas’ grünem Seidenhemd.
    Thomas’ Stimme hatte Irene damals nicht gehört. Und weil seine Gedanken damals so weit weg waren, hatte sie auch sein Gesicht nicht wahrgenommen.
    Später, als Stefan Irene von Thomas erzählt hatte, wußte Irene noch, daß Thomas’ Haar hell war. Und daß es lang geflattert hatte. Manchmal dicht an den Sträuchern vorbei.

    Unerwartet hatte Thomas ein paar Tage danach angerufen. Er war verlegen. Vielleicht sprach er, weil er verlegen war, über sich selbst.
    Was er sagte, kannte Irene. Stefan hatte

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