Reisende auf einem Bein
ihr das erzählt. Doch sie hörte gerne zu. Den Wandlungen zwischen denselben Fakten hörte Irene gerne zu: die Kleinstadt, die Frau, das Kind, die Buchhandlung.
Der gleiche Satz: Ich habe ein paar Jahr eine Frau geliebt, klang anders.
Schon nach dem ersten Gespräch hatte Thomas die Frage gestellt, die er seither nach jedem Gespräch stellte. Diese Frage fiel auch jetzt noch, wie damals, aus dem Gespräch heraus. Und Thomas stellte sie jetzt noch, wie damals, ohne Übergang:
Hast du Angst vor mir.
Auch beim ersten Gespräch war Irene vor dieser Frage nicht erschrocken. Sie war, ohne es zu wissen, auf die Frage gefaßt gewesen.
Auf diese Frage sagte Irene jedesmal: Nein. Danach legte Thomas den Hörer auf.
Einmal hatte Thomas den Hörer nicht aufgelegt. Er war einen Schritt weitergegangen.
Ich habe Angst vor dir, hatte Thomas gesagt.
Auch vor diesem Satz war Irene nicht erschrocken. So ruhig, daß es abwesend klang, hatte sie gefragt:
Weshalb.
Thomas hatte genauso ruhig geantwortet:
Weil du mich durchschaust.
Thomas lud Irene nie zu sich ein.
Eines Tages, als Thomas nach dem Gespräch seine Frage stellte, ging Irene, nachdem sie, wie immer rasch: nein gesagt hatte, einen Schritt weiter. Sie sagte:
Ich will dich besuchen.
Doch Thomas hatte mit diesem Satz gerechnet:
Wann.
Jetzt.
Thomas sagte:
Gut.
Auf der Straße nahm Irene, da ihre Hand auf einmal so leer war, ein Kastanienblatt vom Boden.
Das Treppenhaus war eng. Es hatte ein Echo.
Irene läutete. Suchte einen Winkel auf der Türschwelle. Das Blatt war gelb. Die Türschwelle war dunkel.
Thomas öffnete die Tür. Nahm das Blatt aus Irenes Hand: Woher hast du das Blatt.
Thomas wartete nicht auf eine Antwort: Er strich sich mit dem Blatt über die Wange. Er ging voraus ins Zimmer.
Irene stand im Türrahmen. Sah durchs Fenster ein anderes Fenster. Wußte nicht, weshalb sie gekommen war.
Um bleiben zu müssen, statt zu gehn, setzte sich Irene auf den einzigen Stuhl. Der stand am Schreibtisch.
Auf dem Schreibtisch lagen viele Photos von ein und derselben Person. Es waren Photos des jungen, toten Politikers. Eines von ihnen hatte Irene auch ausgeschnitten.Es war übriggeblieben, hatte nicht hineingepaßt, in die Collage an der Küchenwand.
Thomas sah über Irenes Schulter.
Mein Fall, sagte er.
Wieso.
Ich bin wie er.
Er war nicht schwul. Und du hast keine Macht, sagte Irene.
Das Kastanienblatt lag auf dem Bett.
Thomas ging auf das Blatt zu.
Meine Beziehungen sind alle gleich, sagte er. Am Anfang bin ich abhängig. Später ist es umgekehrt. Ich hab immer die Macht. Ich will sie nicht. Und, wenn ich sie hab, verbiet ich für zwei. Der andere fügt sich. Er fühlt für zwei.
Thomas saß auf dem Bett. Irene sah durchs Fenster. Wenn du das weißt, sagte sie.
Thomas strich mit dem Blatt über seine Hand:
Gesellschaftlich hab ich mir Macht verboten. Ich habe die Chancen gehabt, ich hab sie nicht wahrgenommen. Ich habe diese Veranlagung. Ich habe immer gewußt, daß ich gefährlich bin, und mich immer auf das konzentriert, was ich nicht werden will.
Wenn man das weiß, dann ist es nicht so, sagte Irene.
Zwischen den Büchern im Regal lag ein Paar grüner Socken. Das Etikett war noch dran.
Ich habe so lange gegen mich gelebt, sagte Thomas, daß nichts aus mir geworden ist.
Das Licht fiel über die Photos auf dem Schreibtisch.
Das sieht man mir an, sagte Thomas, das sieht manmir an. Das steht mir so klar im Gesicht, als ob ich alles, was ich nicht getan hab, getan hätte.
Irene hielt eines der Photos ganz nahe ans Gesicht.
Thomas lachte. Legte das Blatt aufs Bett und stand auf:
Ich geh mal nachsehen, wie es mir geht.
Thomas öffnete die Schranktür und sah sein Gesicht im Spiegel an:
Ich bringe nur Unglück. Ich habe einen Mann noch nie verlassen wegen einem anderen Mann. Ich hatte immer Gründe.
Thomas hatte die Lippen geöffnet. Er sah seine Zähne an.
Hast du schon viele verlassen, fragte Irene.
Thomas nickte. Er sah seinen Kehlkopf an.
Dann hast du Gründe gesucht.
Ich hab sie nicht gesucht, ich hab sie nur gefunden. Erst wenn ich sie gefunden hatte, wußte ich, daß es sie gibt. Das Schlimme ist, ich reiche mir für mein Unglück nicht aus. Ich muß mich damit immer an andere Menschen wenden.
Seit zwei Tagen stand ein Gerüst im Innenhof. Es hatte neun Stockwerke. Es reichte bis zum Dach. Das neunte Stockwerk war mit Brettern verschlossen. Es war ein Gang.
Das Gerüst ließ den Innenhof noch tiefer erscheinen. Und enger. Es
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