Reisende auf einem Bein
machte das Geräusch aus Holz und Eisen: Ein helles und ein dunkles Geräusch lösten sich ab.
Das Geräusch blieb dumpf. Blieb gleichmäßig. Fing seine eigenen schrillen Töne auf.
Das Geräusch fing um sieben Uhr am Morgen an und dauerte bis zum frühen Nachmittag. Das war ein Arbeitstag. Irene beteiligte sich mit den Augen.
Eigentlich ging es dem Gerüst um Irene und Franz. Die Stille im Innenhof war durch das Gerüst gebrochen. Doch der Wohnung fehlte immer noch unterm Fenster die Straße. Der Holunder wuchs rasch. Neue Triebe versuchten am Morgen Landschaft vorzutäuschen.
Der Holunder war in die Beziehung zwischen Irene und Franz verstrickt: ängstlich wie sie, unberechenbar wie er. Um sieben Uhr stiegen die Männer auf das Gerüst. Der eine war jung. Er trug schulterlanges Haar und ein Stirnband. Sein Hintern war breit und flach. Sein Bauch hing wie eine große Birne unterm Hemd. Der junge Arbeiter sah aus wie ein dickes Kind.
Manchmal pfiff der Arbeiter auf dem Gerüst ein Lied beim Arbeiten. Das Lied war gleichmäßig und gedämpft, als würde er unten auf dem Boden gehn. Als würde er nicht arbeiten, sondern nur nachdenken und pfeifen.
Auf dem Gerüst standen täglich fünf Arbeiter.
Irene hatte sich den einen ausgesucht, den mit dem Stirnband und dem schulterlangen Haar. Ihm schaute sie zu.
Irene wollte nicht mehr über ihn wissen als das, was sie sah. Sie sah, wie er sich am Lärm des Gerüsts beteiligte. Er hob und senkte die Arme. Nahm Bretter und Zangen, die ihm andere Arbeiter reichten. Er schaute keinem ins Gesicht. Er war häßlich und sprach nicht.
Die anderen Arbeiter nahm Irene nur wahr, wenn sie in der Nähe des Arbeiters waren, den sie sich ausgesuchthatte. Doch Irene dachte nicht darüber nach, was sie taten. Es gab sie nur, damit der Arbeiter mit dem Stirnband arbeiten konnte auf dem Gerüst.
Jetzt würde Franz den Innenhof ertragen, dachte Irene. Es ist ein Gerüst da, das sich jeden Tag verändert. Und hinter dem Gerüst ist eine Wand, die sich jeden Tag verändert.
Der Vogel, der oft in den Innenhof kam und nicht lange blieb, der sich irrte und oft zwitscherte in einer anderen Jahreszeit, kam selten, seit das Gerüst stand. Kaum hatte er sich hingesetzt, flog er schon weg. Es blieb ihm keine Zeit zum Zwitschern. Wenn er den Schnabel aufriß, schlug er falsche Töne an.
Franz würde jetzt die Unruhe ertragen, weil keine Stille ist, dachte Irene. Er könnte jetzt nicht sagen, du verstehst nicht, was ich meine, du hast gute Nerven. Das konnte Franz nur in der Stille sagen.
Am Nachmittag war das Gerüst still. Der Arbeiter, den Irene sich ausgesucht hatte, war weggegangen. Jeden Nachmittag sah das Gerüst so aus, als käme er nie wieder. Als hätte er sich beim Pfeifen geirrt wie der Vogel. Nicht wie der Vogel in der Jahreszeit. Als hätte er sich geirrt zwischen Stockwerk und Tiefe.
Die Ruhe im Innenhof trieb Irene auf die Straße.
Hast du keine Handcreme, fragte der Junge mit der Schirmmütze.
Nein, sagte Irene.
Er lehnte an einer geschlossenen Imbißbude. Er hatte einen bösen Blick.
Als er zu reden anfing, hatte Irene keine Angst mehr vor ihm.
Schade. Ihr Frauen habt doch immer so was in der Handtasche.
Ich hab sie zu Hause.
Woher kommst du.
Das spielt keine Rolle.
Irene ging. Hörte ihre Schritte in den Ohren schlagen.
Was spielt eine Rolle, fragte der Junge.
Thomas kannte diesen Jungen mit der Schirmmütze. Er lebte in allen Städten. War nur einer der vielen, deren Spuren sich verloren, während sie noch lebten.
Die lassen ihre Spuren immer liegen, hatte Thomas gesagt, von einer Ecke zur anderen nehmen die nichts mit.
Thomas kannte Mädchen und Jungen, die auf den Strich gingen.
Ein paar Jahre ließen sie die Haut schillern. Wie nasse Steine funkelten ihre Augen. Ihre Pupillen waren die versteckten Enden der Kanäle, halbwilder Schmuck der rostigen Rohre.
Pupillen, hatte Thomas gesagt, Pupillen wie Ohrringe mitten in den Augen.
Rasch verwelkten die Jahre um Schenkel und Hüften. Wo sie standen, mischte sich ein Hauch Parfum mit einer Wolke Urin.
Und später, was geschah später. Was wurde aus ihnen in den immer auf sie zukommenden Jahreszeiten: Wenn Dachböden und Keller zu teuer waren. Wenn das Verbot kam, auf Stadttürme zu gehn. Wenn in den U-Bahnhöfen die Bänke zu Stühlen umgebaut waren und die Eingänge nachts mit Eisentoren verschlossenwaren. Wenn Polizeistreifen aus den Hallen der Bahnhöfe hinausgegangen waren.
Es blieben im Frühjahr und
Weitere Kostenlose Bücher