Reisende auf einem Bein
Herbst unter den Brücken die Winkel zwischen Bäumen und Schienen. Im Sommer die Bänke der Parks und die Plastiktüten als Kissen. Und Träume, lang wie die Nächte und Jahreszeiten. Träume außerhalb des Kopfes, in denen Ratten und Kaninchen, Maulwürfe und Vögel die gleichen Eingänge benutzten.
Und im Winter kamen die Autos mit roten Lichtern und heulenden Sirenen.
Die Schlafenden warteten starr. Die Polizisten und Ärzte schrieen nicht mehr. Sie rollten das Meßband auf und zeichneten mit Kreide. Und die Passanten versammelten sich.
Und an all diesen Abenden drang wie immer Musik aus den Kneipen. Über die grünen Samttische, unter Lampen, rollte die weiße Kugel ins Loch.
Es sind Menschen, von denen dich das Böse und das Gute gleichzeitig erreicht, hatte Thomas gesagt. Es sind zwielichtige Engel, an denen das Gute so rücksichtslos und das Böse so hilflos ist, daß man nicht damit umgehen kann. Man muß sich eine andere Straße suchen, wenn man einen zwielichtigen Engel sieht.
Die meisten Menschen haben so viel Glück, hatte Thomas gesagt, daß sie diese Geschöpfe nie kennenlernen. Ich habe keins. Oder nur wenig. Auch mein Unglück liegt nicht auf der Hand. Ich muß täglich, wider meinen Willen, etwas für mein Unglück tun.
Wenn du nichts für dein Unglück tust, hatte Irene gefragt, hast du dann Glück.
Unglück hat mit Glück nichts zu tun, hatte Thomas gesagt. Wenn ich nichts für mein Unglück tu, kommt die Ratlosigkeit. Sie ist wie ein Stein, ich kann mich nicht bewegen. Dann muß ich was tun, damit sie sich bewegt.
Irene hätte dem zwielichtigen Engel mit der Schirmmütze gerne an der Imbißbude ihre Handcreme gegeben. Sie lag auf dem Tisch neben dem Spiegel.
10
AM ANFANG der Jahreszeiten war die Mode grell. Und aufdringlich. Irene wünschte sich mehrere Körper, um die Kleider aus den Schaufenstern zu tragen. Und Geld, um die Kleider zu kaufen. Und, daß man die Kleider nicht kaufen mußte, nur borgen, sich müde tragen an ihnen, einige Tage. Mit leicht verrutschten Nähten gingen Frauenstrümpfe den Rinnstein entlang, auf Straßenenden zu, als hätten die Frauen nur Beine. Beine für Männer. Beine mit Schlingen. Sie fingen Blicke ein. Auch Irenes Blicke fingen sie ein.
Irene spürte die Haut in ihren Kniekehlen. Und Takte. Es war Erregung, die Irene durch die Straßen trieb. Die Schritte waren ungleichmäßig, aber leicht.
Alles, was Irene sah, war ein Zufall. Es hätte auch anders sein können. Und es war auch anders, schon im nächsten Augenblick.
Daß Irene kein Geld hatte, machte ihre Hände in den Läden trocken. Und auf der Zungenspitze wuchs ein bitterer Fleck.
Zwischen Schaufenstern flog ihr Staub ins Gesicht.
Doch wenn Irene an einem einzigen Tag, an drei verschiedenen Orten der Stadt, drei verschiedene Frauen mit der gleichen Haarspange, die ein Flugzeug war, sah, freute sie sich, daß sie kein Geld hatte. Und daßihr Haar für diese Spangen zu kurz war. Und ihr Kopf wurde langsam schwer. Und zwischen Nase und Mund zuckte die Haut wie ein großes Insekt.
Dann wußte Irene: Die Mode verkürzt das Leben.
Die schwarze Spitzenunterwäsche im Schaufenster wirkte zerbrochen.
Irene stellte sich Frauen vor, die in schwarzen Spitzen ins Bad gingen, oder zum Kleiderschrank. Und, daß man die Unterwäsche, wenn es Nacht war, nicht sah.
Und Frauen kannte Irene, die schwarze Spitzen verachteten.
Auf den Wäscheständern in ihren Küchen hingen weiße Baumwollunterhöschen. Daß das nicht half, dachte Irene. Daß die Erregung sie traf, daß sie die Schlucht genauso kannten, wie jene anderen Frauen, die sich in schwarzen Spitzen in den Atem zwischen Männerhände legten.
Die Glocke an der Ladentür läutete so oft, als hätte Irene dreimal den Laden betreten. Zweimal, als die Tür bereits geschlossen war.
Hinterm Pult stand eine kleine alte Frau.
Sie öffnete den Mund, als wolle sie gähnen. Sie gähnte nicht. Es war ihre Art, die Wörter zu ordnen im Mund, bevor sie sprach.
Kann ich helfen, fragte sie.
Irenes Finger griffen zwischen wirre Spitzenhöschen. Blumenmuster, schwarz, lagen auf Irenes Handrücken.
Die Frau ließ Irene nicht aus den Augen.
Irenes Finger gingen unaufhaltsam eigene Wege. Die Frau schaute, als wollte sie verbieten. Als hätte sie, solange ihr Fleisch jung und glatt war, alle Liebe verfeuert.
Da stand zwischen den Höschen, zwischen den Fingern an Irenes Hand der Daumen von Franz.
Haben Sie sich entschieden, fragte das Gesicht der alten
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