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Reisende auf einem Bein

Reisende auf einem Bein

Titel: Reisende auf einem Bein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herta Mueller
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Frau.
    Irene ließ den Daumen von Franz zwischen den Höschen liegen.
    Die Glocke läutete so laut und so oft, als schlage der Wind zu.
    Eine dürre Frau drängte sich durch die Tür. Sie trug eine schmale Handtasche.
    Sie ging rasch zu den Regalen hin. Vor den Parfums blieb sie stehen.
    Sie schob die Handtasche am Ärmel hoch. Sie griff nach einem Fläschchen. Sie sprühte sich hinter beide Ohren, an den Hals und auf den Mantelkragen. Sie sah nach links und nach rechts. Sie öffnete die Handtasche und zog ein Taschentuch heraus. Sie besprühte das Taschentuch von beiden Seiten.
    Irene stand hinter ihr. Im Fläschchen, das die Frau ins Regal zurückgestellt hatte, schwankte das Parfum.
    Der Duft war süß. Die alte Frau drehte sich um. Sie hatte Irenes Blick gespürt.
    Ein von Falten durchbrochener Hochmut stand in ihrem Gesicht. Als sie die Handtasche den Ärmel runter, in die Hand schob, war es von Falten durchbrochene Verachtung.

    Als Irene nach Hause kam, öffnete sie den Briefkasten. Die Briefe fielen zu Boden. Im Briefkasten steckte ein Werbeprospekt.
    Irene bückte sich. Sie griff nach den Briefen. Aufdem Prospekt stand: das Parfum, das Gefühle provoziert. Jeder Tropfen eine Verführung.
    Irene roch an den Briefen. Einen Briefumschlag erkannte Irene. Er kam aus dem anderen Land.
    Irene erkannte die Briefe aus dem anderen Land, ohne die Briefmarke, ohne den Poststempel anzusehen. Am rauhen, grauweißen Papier erkannte Irene die Briefe.
    Der Brief war von Dana.
    Danas Briefe waren immer viele Wochen unterwegs. Waren immer schon einmal geöffnet worden, wenn Irene sie öffnete. Die Inhalte der Briefe waren alt. Und vorsichtig waren die Inhalte, geprüft, auf das, was man schreiben durfte. Und auf das, was man nicht schreiben durfte.
    Der Brief, der Gefühle provoziert, dachte Irene. Jeder Tropfen eine Verführung.
    Irene riß den Brief auf. Und las den letzten Satz:
    Ich hab Sehnsucht, fast eine körperliche Sehnsucht nach dir.
    Das war ein Satz, aus dem Danas Stimme kam. Doch mit Danas Stimme auch ein Atem, von dem Irene wußte, daß er Dana nicht gehörte.
    Irene dachte oft an das andere Land. Doch sie drückten nicht in der Kehle, diese Gedanken. Sie waren nicht verworren. Überschaubar waren sie. Fast geordnet. Irene nahm sie hervor, in die Stirn. Schob sie zurück in den Hinterkopf. Wie Mappen.
    Was mußte sich bewegen im Kopf, daß es Heimweh hieß. Das Nachdenken blieb trocken. Es kamen nie Tränen.
    Manchmal hatte Irene den Verdacht, beides zu sein: zerknittert und glattgebügelt.
    Sie verwaltete ihr Heimweh eingeteilt in Landschaft und Staat, in Behörden und Freunde. Es war die Buchhaltung eines halben Lebens: Stille Mappen in fremden Regalen.
    Irene kam damit zurecht. Sie staunte und wußte, daß sie staunte.
    Es waren Monate vergangen, seitdem Irene hier lebte. Die Monate steckten im Kalender. Es war nichts da, was sie hätte beweisen können. Außer den Jahreszeiten.
    Nie war eine Jahreszeit zu Ende, daß nicht die nächste in schwacher Abwandlung begann.
    Die Thermometer an den Straßenecken der Apotheken stiegen und fielen.
    Die Kastanie in der Nebenstraße war kahl, und weiß, und grün.
    Ja, und von Zeit zu Zeit war unter den Rippen die geräuschlose, ruckartige Bewegung, als würde Sand sich verschieben.
    Im Magen die Leere, die in den Mund kroch. In den Waden der Riß, als würden Maschen laufen. Das sah Irene nicht im Spiegel.
    Doch die Angst, daß sich eines Tages der Körper fallen lassen würde, ohne den Kopf vorher zu warnen, die sah sie.
    Vielleicht hat Heimweh nichts mit dem Kopf zu tun, dachte Irene. Ist selbständig und verworren in der Ordnung der Gedanken drin. Vielleicht ist das ein Gefühl, wenn man weiß, wie es abläuft. Und wie man es vertreibt.Wenn man mal zu leicht und mal zu schwer ist auf den Straßen.
    Wenn das Heimweh ist, dachte Irene, dann bin ich verlogen.

    Stefan legte dicke Mappen auf den Tisch.
    Forschungsprojekte, sagte er.
    Sein Gesicht war so blaß, daß seine Schläfe wie Papier aussah.
    Irene drückte die Zigarette aus. Stefan sah in den Aschenbecher. Ein Stück Glut rauchte vor sich hin.
    Irene hatte ihre Hand so rasch zurückgezogen, unter den Tisch, auf ihr Knie gelegt, als ob sie weggegangen wär.
    Weißt du, sagte Stefan, daß mich nichts, aber auch gar nichts mit meinem Geburtsort verbindet.
    Irene kannte den Ort aus einem anderen Zusammenhang. Es war eine Kleinstadt, in der ein Schriftsteller lebte, dessen Bücher Irene las.
    Alles, was mich an diesen

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