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Reisende auf einem Bein

Reisende auf einem Bein

Titel: Reisende auf einem Bein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herta Mueller
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Ort bindet, ist eine Modelleisenbahn, die im Keller meines Elternhauses steht, sagte Stefan.
    Irene wußte, daß Stefans Vater tot war. Daß seine Mutter lebte. Daß sie allein lebte in diesem Haus.
    Daß Stefan auch sie, die noch lebte, nicht erwähnte, war für Irene in diesem Augenblick eine Unterlassung.
    Der Mann am Nebentisch legte das Ende seines grauen Schals über die Schulter. Er hatte mitgehört, was Stefan sagte. Er verlangte Feuer und hörte weiter zu.
    Ganze Nachmittage bringe ich im Keller dieses Hauses zu, sagte Stefan.
    Irene hörte das Geräusch der Modelleisenbahn und darüber Schritte einer alten Frau, die zwischen Gegenständen über kahle Böden ging:
    Wie alt ist deine Mutter.
    Wenn ich aus dem Keller komm, hör ich sie sprechen, sagte Stefan. Sie spricht nicht mit sich selbst. Sie spielt Familie. Mutter, Vater und Kind. Auch die Mutter ist nicht sie selbst. Auch die Mutter, die sie spielt, ist eine andere. Nicht nur für sich, auch für mich. Sie hat einen Blick wie die Frauen vor Gewittern.
    Weißt du, vor Gewittern geh ich oft auf die Straße spazieren, sagte Stefan.
    Die Frauen haben Wind auf der Haut. Sie sind vor Gewittern verstört. Sie haben einen Blick, als wüßten sie, was in den nächsten Jahren mit ihnen geschieht. Sie setzen was aufs Spiel.
    Es ist Angst vor dem Altern, sagte Stefan. Ihre Hälse werden lang und ihre Hände eine Spur zu weiß.
    Der Mann mit dem grauen Schal beugte sich vor.
    Ihre Schritte sind unsicher, als lehnten sie die Beine an den Himmel an.
    Stefan redete zu laut:
    Ich bin vorsichtig mit dem Schlüsselbund. Ich will sie nicht erschrecken, wenn wir in meine Wohnung gehen.
    Stefan sah sich um:
    Ich schlage das Bett auf und rede. Ich rede ohne Ende über Dinge, die mich nicht betreffen.
    Stefans Mund war naß:
    Wenn die ersten Regentropfen fallen, liege ich an fremder Haut. Wenn das Bett sich wärmt, sind die Frauen durchsichtig. Eines nur ist nicht so angenehm.Wenn ich sie küsse, höre ich in ihren Köpfen oft ein Rauschen.
    Irene schob den Ärmel hoch. Sie sah auf die Uhr. Statt der Zeiger sah Irene auf dem Zifferblatt einen endlosen Zusammenhang.
    Eine zuckende Bewegung, in der sich die anwesenden Dinge und abwesenden Personen gleich verteilten.

11
    IRENE war unterwegs zum Flughafen. Irene war unterwegs zu Franz. Sie war froh, daß sie die Stadt verließ.
    Im U-Bahnwagen saßen fünf Leute. Alle hatten zu große Hände. Alle sahen ins Leere. Die Bahn zerrte. Und ihre Köpfe nickten. Nur ihre Köpfe.
    Die beiden, die Irene gegenübersaßen, kannten sich bis in die kleinsten Gesten. Deshalb machte der eine für den anderen alles falsch.
    In seiner Zudringlichkeit und Bestimmtheit hatte der junge dem alten Mann gegenüber die Rolle des Vaters übernommen. Und der alte die Rolle des Sohns.
    Der Vater legte den Kopf auf die Schulter des Sohns. Seine Augen waren nicht traurig. Sie hatten keinen Glanz. Sie waren bloß stumpf.
    Der Sohn sprach rasch und leise. Neben ihm stand eine Plastiktüte. Er nahm aus der Plastiktüte eine Frischhaltetüte. Es waren Brotscheiben und drei Eier drin.
    Der Sohn las den Namen der Haltestelle laut.
    Der Vater hatte die Augen geschlossen. Er atmete, als wäre er gewohnt, überall zu schlafen.
    Du sollst jetzt nicht schlafen, sagte der Sohn, hörst du, du darfst jetzt nicht schlafen.
    Er nahm ein Ei aus der Frischhaltetüte. Er begann das Ei zu schälen, ohne hinzusehn: Er sammelte die kleinen, spitzen Stücke, die er von der Schale abbrach, in der Hand.
    Als das Ei nackt war, steckte er die Schalen in die Rocktasche, als wäre er gewohnt, überall zu essen.
    Das Ei war ihm lästig. Er hielt es vor das Gesicht des Vaters. Der Vater war ihm lästig.
    Ich kann nicht essen, sagte der Vater, hörst du, ich kann jetzt nicht essen.
    Er öffnete die Augen nicht, als er das sagte.
    Nur schlafen kannst du, mein Gott, kannst du schlafen.
    Der Sohn ließ das nackte Ei in die Tüte fallen:
    Ich laß dich hier, hörst du, ich laß dich hier sitzen.
    Als Irene auf die Straße trat, war das Licht grau. Nur der Damm war beleuchtet. Hinter dem Damm, eingedrückt zwischen Himmel und Gras, stand die Sonne. Alle Autos fuhren unter die Erde. Über dem Damm flatterte ein Vogel. Im letzten Augenblick konnte er ausweichen. Denn das Licht blendete. Die Wolken waren zerwühlt, und der Baum bewegte die Äste.
    Hinter dem Damm, wo eingedrückt die Sonne stand, lag der Flughafen.
    In der Halle des Flughafens waren die Reisenden verwirrt. Ihre Stimmen waren

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