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Reisende auf einem Bein

Reisende auf einem Bein

Titel: Reisende auf einem Bein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herta Mueller
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verhalten, wenn sie miteinander sprachen.
    Die Reisenden griffen nach den Koffern, als müsse etwas Unvorhergesehenes geschehn. Sie gingen langsam. Wenn das Unglück eintrat, war das Nötigste nicht erreichbar.
    Irene setzte sich nicht auf den Platz, den die Bordkarte ihr zuwies.
    Auf dem Nebensitz saß ein Mann. Er hatte kleine, rote Wunden an der Nagelhaut. Er hatte sich kurz vor der Reise, in Eile, die Fingernägel geschnitten. Aus Angst, daß die Fingernägel unterwegs rascher wuchsen als zu Hause.
    Auch sein Haar war frisch geschnitten.
    Die Stewardeß zeigte mit dem Daumen auf die Notausgänge. Sagte, die Reisenden sollten den roten Lämpchen nachgehn, um die Fluchttüren zu erreichen.
    Irene fragte sich, weshalb es vor dem Sturz dunkel werden sollte. Es war Vormittag.
    In dem anderen Land hatte Irene von einer Baustelle ein Schild gestohlen. Auf dem Schild fiel ein Mann mit dem Kopf nach unten. Auf dem Schild stand: Gefahr ins Leere zu stürzen.
    Irene hatte das Schild in dem anderen Land in ihr Zimmer gehängt. Über das Bett. Sie hatte die Warnung auf ihr Leben bezogen. Und auf das Leben aller, die sie kannte.
    Das Schild hatte jahrelang neben einem anderen Schild, das Irene von einer Landstraße gestohlen hatte, gehangen. Darauf stand ein Mann mit einer Grabschaufel. Irene hatte auf das Schild geschrieben: Graben ist immer am Rande der Legalität. Es war ein Satz aus einem Buch.
    Auch diesen Satz hatte Irene auf ihr Leben bezogen.
    Der Mund der Stewardeß lächelte.
    Irene saß am Fenster. Sie wollte Wolken sehn und ihre Angst. Und draußen auf den Wolken ihre Angst.
    Das Gesicht von Franz war von der Angst und von den Wolken nicht zu unterscheiden.
    Die Stewardeß trug eine Kaffeekanne durch den Gang.
    Entschuldigung, Ihr Herz ist stehengeblieben, hörte Irene ihre Stimme sagen.
    Ihr Mund bewegte sich nicht.
    Irene wußte, daß sie Franz halb gegen seinen Willen besuchte.
    Sie nahm die Länge der kurzen Straßen als Tiefe wahr. Das Laub war feucht. Auf den Gehsteigen waren Autos geparkt. Fenster waren beleuchtet hinter den Gärten. Die waren so dunkel, daß man die Farbe der Blätter nicht sah. Nur ihre Ränder waren bestrahlt.
    Die geparkten Autos waren mit großen, gelben Blättern bedeckt. Die Dächer der Autos, die Kofferräume und Scheiben.
    Die Blätter waren nicht welk. Sie waren wie frisch geschnitten, mit langen, rötlichen Stielen.
    Und der Gehsteig war so dick mit Blättern belegt, daß er sich hob und senkte unter den Schritten.
    Irene fror, weil der Gehsteig so weich war. Sie ließ sich nicht anmerken, daß sie fror. Sie wollte keine Umarmung erzwingen. Sie war auch nicht sicher, ob sie fror. Es hätte auch Hitze sein können. Oder Frost und Hitze zugleich.
    Vor einem der geparkten Wagen blieb Irene stehen. Sie sagte:
    Die sind wie Gräber.
    Franz schwieg. Sein Mund bewegte sich. Sein Kinn war spitz. Und sein dunkelgrauer, langer Mantel verschwunden auf dem Kopfsteinpflaster.
    Eine Stunde später war das Hotelzimmer viel zu klein und die Wände viel zu weiß.
    Seltsam, sagte Franz, daß du, wenn du Blätter siehst, an Gräber denkst.
    Irene legte die Hände aufs Fensterbrett. Die Straße war hell beleuchtet. Die Kneipentür öffnete sich langsam. Ein Betrunkener trat auf die Straße.
    Ein Wagen parkte.
    Die geparkten Autos sind wie geschmückt, sagte Franz.
    Aus dem Wagen stieg eine Frau. Sie schlug die Tür zu.
    Das eine ist mein Bild, das andere ist dein Bild, sagte Irene. Dazwischen gibt es nichts.
    Die Frau strich mit der Fingerspitze über die Scheibenwischer.
    Deshalb hab ich dir nicht widersprochen, sagte Franz.
    Irene sah seine Augen in der Scheibe stehn.
    Du hast mich erschreckt, sagte Franz.
    Irene sah kurz ins Zimmer. Das Streichholz lag dort, wo sie ihre Tasche hingestellt hatte.
    Die Jacke rutschte von der rechten Schulter der Frau. Sie blieb auf der linken Schulter hängen.
    Ich hab gesagt, was ich gesehen hab. Ich wollte dich nicht erschrecken, sagte Irene.
    Ein Mann saß hinter einer Zeitung. Eine Frau, sie trug eine weinrote Jacke, legte ein Stück Fleisch vor den Mann, auf einen leeren Teller.
    Der Mann schaute das Stück Fleisch an und las weiter. Das geschah auf dem Bildschirm.
    Franz drehte den Ton ab, als die Frau zu sprechen begann. Irene hatte das Gefühl, daß Franz ihr das Wort verbieten wollte. Irene sah den Mund der Frau an. Wußte nicht, was sie sagte. Doch Irene wußte, daß sie das, was die Frau sagte, zu Franz hätte sagen sollen.
    Jetzt, wo die Frau ohne Ton

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