Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Reisende auf einem Bein

Reisende auf einem Bein

Titel: Reisende auf einem Bein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herta Mueller
Vom Netzwerk:
sprach und der Mann das Stück Fleisch aß, war die weinrote Jacke so starr und so schön auf dem Bildschirm und so überflüssig, wie ein weinroter Hut.
    Franz saß schief auf dem Stuhl.
    Denn die weinrote Jacke rückte den Stuhl und den Fußboden in einen Winkel, den nur ferne Dinge haben konnten. Und Irene sah, was auch Franz sehen mußte: daß die Frau in der weinroten Jacke alles, was sie tat, gegen Franz tat.
    Das störte Irene nicht. Doch daß die Frau zwischen dem, was sie tat, ihre Gesten so deutlich hervorhob, das störte Irene.
    Die kann erpressen. Entweder man kann es, oder man versucht es nie.
    Irene wartete auf der Straße auf Franz.
    Ein Mann bettelte. Die Frau, die vor dem Schaufenster stand, schaute Hüte an. Sie gab ihm nichts. Der Mann schrie.
    Als er vor Irene stand, die Hand hinhielt, drückte Irene ihm zwei Münzen in die Hand:
    Wenn du nicht lächelst, sagte Irene, gibt dir niemand was. Und wenn ich sag, ich habe Durst, sagte der Mann. Nur Hunger wirkt bei denen.
    Franz zog Irene am Ärmel.
    Du hast ihm was gegeben, du hast ihm geglaubt, sagte er.
    Er hat Durst, sagte Irene, er hat nicht gelogen.
    Franz beugte sich zu ihr. Sein Gesicht war kalt. Und sein Blick feucht. Er strich Irene durchs Haar.
    Franz war behutsam. Und das Hochhaus hinter ihm ganz aus Glas. Es strahlte. Und Franz war ein bißchen verwirrt.
    Jede Stadt macht ihn anders. Marburg reicht nicht bis hierher, dachte Irene. Vielleicht mag er Frankfurt.
    Dann ein Café, ein zweites, ein drittes. Das letzte war karg und alles in schwarz. Auch die Tassen und Schalen. Und ringsherum Spiegel. Und Franz hob das Glas jedesmal zwischen den Sätzen an den Mund, wenn es schon leer war. Und redete viel. Und sah oft seine Hände an.
    Dann der Fluß und das Ufer. Eine Bank und kein Bett. Franz sah aufs Wasser und sagte: Ich faß dich gerne an.
    Dann, als es dunkel war, der Schwulenstrich auf dem langen Weg zwischen Blättern, durch die man von weitem Lichter sah.
    Irene wußte nicht, ob Franz wußte, wo er war. Doch sie merkte, daß Franz und sie da nicht hingehörten. Denn die Wartenden verschwanden, wie Schatten im Gestrüpp, nachdem sie zwei Gehende so seltsam gepaart gesehen hatten. Wenn Franz allein gewesen wäre, hätten sie auf ihn gewartet.
    Irene dachte an den losgelösten Sommer in dem anderen Land. An den Strauch und an den Mann, der gesagt hatte: Lauf nicht weg, ich tu dir nichts. Ich will dich nur sehen.
    Und an den Trommler dachte Irene.
    An den Zweigen war mehr Holz als Laub. Und die Wartenden waren nicht verschwunden. Es raschelte auch ohne Laub hinter ihnen. Oder machte das Holz dieses Geräusch, wenn es auf gierige Haut stieß.
    Franz ging vor Irene her. Irene sah seinen Rücken.
    Irene dachte: jetzt verändert er sich. jetzt wird er schwul, unterwegs, zwischen Blättern und Holz, weil er durch diese Bilder geht.
    Und es war Eifersucht, der Irenes Blick bei jedem Schritt auf den Boden zwang. Irene hatte Lust auf Franz und wünschte sich, daß er schwul sei, und vergaß, daß sie kein Mann war, sondern eine Frau.
    Und es fiel ihr das Wort ein, wie das bei den Frauen hieß. Das Wort gefiel Irene nicht.
    Und es war auch kein Wunsch da, der sich mit dem Wort verband.
    Küß mich, hätte Irene gerne zu Franz gesagt. Sie schwieg.

    Irene begleitete Franz zum Bahnhof.
    Auf den Schienen stehende Züge. Senfgrün waren die Strümpfe. Blau der Rucksack des Mädchens. Von ihren Kopfhörern riß sich Musik los. Schwergeschminkte Augenlider. Die Augen offen und groß und starr, als streiften sie nie ein Bild.
    Über dem Bahnsteig drehte sich eine Kugel. Die war von innen durchleuchtet.
    Zwei Frauen sprachen miteinander. Hoben beim Sprechen die Hände zwischen ihre Gesichter. Ihre Hände ähnelten sich. Waren nur an den Ringen und an der Farbe des Nagellacks voneinander zu unterscheiden.Dann rückten die Hände die Koffer näher. Die Lippen standen offen und sagten nichts.
    Ein Paar schwarzer Lackschuhe glänzte. Widerspiegelte nichts als ein Paar weißer Socken.
    Neben dem Zug trippelte eine Taube. Sie trug den Kopf so steif, daß Irene nicht wußte, ob es Hochmut oder eine Krankheit war, was sie quälte.
    Wo keine Züge standen, hatten die Schienen Schwellungen vom Licht. Balken dazwischen. Zwischen den Balken gemahlene Steine. Zigarettenkippen.
    Die Taube hing über dem stehenden Zug in der Luft. Irene sah ein Zahnrad hinter ihrem Schnabel.
    Wenn Irene jetzt hätte sagen müssen, was sie empfand, wäre kein einziger Satz richtig gewesen.

Weitere Kostenlose Bücher