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Reisende auf einem Bein

Reisende auf einem Bein

Titel: Reisende auf einem Bein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herta Mueller
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Nicht einmal Silben, die willkürlich zusammenfanden.
    Aus der Kugel, die sich drehte, sagte eine Frauenstimme Züge an.
    Schöne Lippen, hoch oben, dachte Irene, sagen den Zug an für Zwerge.
    Das Mädchen mit den senfgrünen Strümpfen stieg in den Zug. Ihre Beine waren schwerer als der Rucksack.
    Es war schön mit dir, hatte Franz gesagt.
    Irene hatte nichts hinzugefügt. Daß es schön war, hatte ihr weh getan. Daß es schön war und es dabei geblieben war.
    Irene ging zurück ins Hotel.
    Sie knipste alle Lichter im Zimmer an. Sie schaltete den Fernseher ein und ging ins Bad. Sie wusch ihr Höschen und ihre Strumpfhose. Sie hängte das Höschen auf die Stuhllehne und die Strumpfhose auf einen Kleiderbügel an die Schranktür.
    Über den Bildschirm zog eine Kleinstadt.
    Die Bewohner der Kleinstadt waren Pendler. Der Weg zum Bahnhof führte durch den Weinberg.
    In den Dämmerstunden der Abende gingen die jungen Frauen, die aus der Großstadt kamen, vom Bahnhof durch den Weinberg nach Hause.
    Acht Frauen waren auf dem Weinberg vergewaltigt worden.
    Die Täter: zwei Männer.
    Der Sprecher nannte ihre Vornamen. Er zeigte ein Messer. Damit waren die Frauen genötigt worden.
    Der Sprecher nannte eine Zahl. Das war der Kopflohn.
    Auf dem Bildschirm standen zwei Phantombilder.
    Selbst wenn Irene die Täter gekannt hätte, wäre es für sie wegen des Kopflohns unmöglich gewesen, den Opfern gerecht zu werden.
    Was Irene mehr schmerzte als die Tat, war das Vertrauen in den Weinberg. Das war für die Täter und für die Opfer maßlos gewesen.
    Im Zimmer war die Luft alt. Älter als die Möbel. Irene öffnete das Fenster.
    Jetzt, wo Irene sich hinauslehnte, hatte sie den Namen des Hotels vergessen. Auch den Namen des Flusses, der durch diese Stadt floß. Und den Namen der Brücke, die über den Fluß führte.
    KALTES LAND KALTE HERZEN RUF DOCH MAL AN JENS. Und eine Telefonnummer.
    Es war ein Graffiti an der Hauswand, hoch über den Bäumen. Die Schrift war zerronnen. Buchstaben mit Fingern. Passanten gingen über den Platz, spürten,ohne die Köpfe zu heben, den Hauch dieser Schrift. Sie steckten beim Gehen ein paar Schritte lang die Hände in die Taschen. Sie froren ein bißchen, ohne zu wissen weshalb.
    Irene stellte sich den Mann mit dem Namen Jens vor. Jünger als sie selbst, so alt wie Franz. Und sich selbst, sich als Kind in dem anderen Land. Und hier in den Städten war der Name Jens in Mode gekommen, als man in dem anderen Land so hieß wie Franz.
    Irenes Augen hatten den Platz verlassen. Schaufenstermänner begleiteten sie, flott und blond, und lächelten künstlich.
    In Irenes Knien hing ein Gewicht. Und in der Stirn ein Wunsch, der fast die Stadt einschloß.
    KALT und LAND und HERZEN. Die Telefonnummer hatte Irene vergessen. Und JENS.
    Es läutete kurz. Dann sprach eine Kinderstimme.
    JENS, sagte Irene.
    Mama, rief das Kind, die Frau von gestern.
    Es klickte. Es summte leer.
    Reisende, dachte Irene, Reisende mit dem erregten Blick auf die schlafenden Städte. Auf Wünsche, die nicht mehr gültig sind. Hinter den Bewohnern her. Reisende auf einem Bein und auf dem anderen Verlorene.
    Reisende kommen zu spät.

    Wir haben bewiesen, daß wir, wenn es uns gäbe, nicht wären, sagte Franz.
    Irene sah die Zahlen auf der Wählscheibe an. Sie tickten.
    Nein, es war die Uhr.
    Wenn es uns zusammen gäbe, sagte Irene, gepaart.
    Der Satz ist ein Zitat, sagte Franz.
    Irene sah das stille Gerüst:
    Von wem ist das Zitat.
    Der Arbeiter, den Irene sich ausgesucht hatte, hatte am frühen Mittag einen Fensterrahmen grün gestrichen.
    Ich weiß nicht, sagte Franz. Auch den Titel des Buches habe ich vergessen. Ich weiß auch nicht mehr, worum es ging. Nicht um Liebe.
    Der Arbeiter, den Irene sich ausgesucht hatte, pfiff seit einigen Tagen nicht mehr, wenn er auf dem obersten Stockwerk stand. Er trug ein kleines, rotes Radio in der Hosentasche. Das sang für ihn. Wenn es zu sprechen anfing, griff der Arbeiter in die Hosentasche und stellte das Radio auf einen anderen Sender.
    Der Arbeiter hörte Schlager, Rockmusik und Blasmusik.
    Ich weiß, daß man ganze Bücher vergißt, sagte Irene. Nur einzelne, waghalsige Sätze bleiben übrig. Sie gehören einem, als hätte ein eigenes Erlebnis in einem Bahnhof sie einem zugeflüstert. Als wären sie einem, ohne daß man das wollte, eingefallen.
    Bahnhof, sagte Franz. Ich glaube, es ging in diesem Buch um Städte.
    Man verändert diese Sätze, man macht sie so, wie man selber ist, sagte Irene.

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