Reisende auf einem Bein
Straße knistert die Tüte. Ich habe einen leichten Schritt: Ich spüre Ungeduld, ich will zu Hause allein vor dem Spiegel stehn: Ich komm in die Wohnung, knipse das Licht an. Ich reiß mir die Kleider vom Körper und lasse sie zu Boden fallen. Ich zittere, wenn ich das Hemd anziehe. Ich schau mein Gesicht im Spiegel an. Dann sehe ich nur noch das Hemd.
Das Hemd ist in meiner Wohnung das einzige, was zählt. Es hebt sich von allem ab, was in der Wohnung steht.
Ich schau mein Gesicht an, und es ist, als ob ich mich zum ersten Mal sehen würde: Ich habe das Gesicht eines Mannes, der ich gerne sein möchte. Ich mag mich. Ich spüre mein Glied. Ich gehe ins Bad und stöhne mich an, wie ein Mann einen anderen Mann anstöhnt. Ich küsse, was man an sich selber küssen kann. Ich liebe mich wie eine fremde Person.
Eine Nacht muß über das Hemd ziehn. Ich hänge es so auf die Stuhllehne, daß ich es vom Bett aus sehen kann. Daß ich jederzeit, wenn ich das Licht anknipse,das Hemd sehen kann. Es könnte ja sein, daß ich wach werde, weil ich das Hemd sehen will.
Leider wache ich nie auf, wenn ein neues Hemd in meinem Zimmer hängt. Ich bin müde vom Kaufen. Ich schlafe tief. Am Morgen ist es vorbei. Das Hemd ist wie alle anderen Hemden. Wie alle Gegenstände im Haus: Es zählt nicht mehr. Es hebt sich nicht mehr ab.
Ich zieh das Hemd an. Ich schau erst in den Spiegel, wenn ich es schon angezogen hab. Ich hab das Gesicht eines Mannes, der ich nicht sein möchte.
Ich fühle mich, als hätte ich mich am Tag davor von jemandem geborgt gehabt und in der Nacht im Schlaf wieder zurückgegeben, sagte Thomas.
Wie oft tust du das, fragte Irene.
Frag das Sozialamt, sagte Thomas, einmal im Monat.
Einmal im Monat, das reicht, sagte Irene.
Was denkst du jetzt von mir, sagte Thomas.
Wenn du dich vor mir ekelst, schau mich an.
17
DER KONTROLLEUR öffnete die Tür des Abteils. Der jüngere der beiden Männer nahm unaufgefordert seine Fahrkarte und seinen Ausweis aus der Rocktasche.
Der Kontrolleur lochte die Fahrkarte der drei Frauen und die Fahrkarte des älteren Mannes.
Der jüngere Mann schaute sein Photo in seinem Ausweis lange an. Las den Namen seiner Eltern, seines Geburtsortes und das Datum, an dem er geboren war.
Der Kontrolleur streckte die Hand nach seiner Fahrkarte aus. Der Mann hatte noch nicht zu Ende gelesen. Als der Kontrolleur die Fahrkarte aus seiner Hand zog, erschrak er.
Der Ausweis fiel zu Boden. Der Blick des Mannes war so verstört, als habe der Mann beim Lesen in seinem Ausweis zum ersten Mal begriffen, wie lange er schon lebte.
Als der Kontrolleur die Tür des Abteils wieder geschlossen hatte, war die Unruhe des Mannes so groß, daß er, als sei er mitten in einem Gespräch, mit dem älteren Mann zu reden anfing. Er redete so vertieft in das, was er sagte, daß sein ganzer Körper in die Sätze eingeschlossen war. Er kam mit dem Atmen nicht nach. Er verschluckte sich, daß ihm Tränen übers Gesichtliefen. Er wartete nicht auf Zustimmung oder Widerspruch.
Er sprach den Namen seines Vaters und den Namen seiner Mutter so aus, als hätte das, was in seinem Ausweis stand, ihn gezwungen, sein ganzes Leben zu erzählen.
An einem kleinen Bahnhof stiegen alle aus.
Irene war nicht mehr sicher, ob sie nach Marburg fuhr. Sie zog die Fahrkarte aus der Handtasche. Der Name der Stadt gab ihr keine Gewißheit. Er war kein Reiseziel.
Der Sinn der Reise war wie kalte Fingerspitzen, war da, wo der Körper aufhörte. Irene spürte ihn nicht. Der Sinn der Reise war mit Mühe verbunden. Das hatte auch mit Franz zu tun.
Wo hinterm Zugfenster das Land flach war, sah Irene der Fläche an, daß sie hoch lag. Hochebene. Da hielt der Acker die Tannen nicht aus und die Tannen nicht den Acker.
Das Dorf, das vorüberzog, stand im Nebel. Niemand ging auf den Straßen.
Am Rand des Dorfes stand ein Mann auf dem Hausdach. Er stieg in den Schornstein.
Der Sportplatz lag weit vom Dorf. So nahe an den Wäldern, daß man das Holz spüren mußte, beim Laufen.
Auf den leeren Sportplatz fiel aus vor sich hin brennenden Scheinwerfern Licht aufs Gras.
Als der Zug hielt, schaute Irene auf die Bahnhofsuhr. Auf dem Zifferblatt stand: Paradeplatz.
Eine Frau stieg zu.
Als der Zug weiterfuhr, sah Irene, daß die Frau sich mit dem Rücken zur Fahrtrichtung gesetzt hatte. Der gegenüberliegende Sitz war frei. Da dachte Irene, die Frau würde sich umsetzen. Irene erwartete das von ihr.
Weil die Frau das nicht tat, sah Irene sie an: Ihr
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