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Reisende auf einem Bein

Reisende auf einem Bein

Titel: Reisende auf einem Bein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herta Mueller
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Knie, ihre Finger, sie lagen auf den Schenkeln. Ihr Rock, ihre Bluse. Ihre Ohrläppchen, ihr Kinn.
    Als Irene bei den Wangen ankam, war die Frau eingeschlafen. Sie atmete langsamer als Irene. Und gleichmäßig.
    Irene war verärgert, daß die Frau so langsam und gleichmäßig atmen konnte. Daß sie das Bild, das sich Irene von ihr gemacht hatte, nicht beschäftigte. Daß sie dieses Bild nicht korrigieren wollte.
    Als Irene ausstieg, wußte sie, daß die Frau noch sehr weit fahren würde. Daß sie durch ihre Sitzweise und durch ihren Schlaf der ganzen Welt den Rücken zukehrte.
    Vor alles, was Irene sah, stellte sich die Frage, ob sie in dieser Stadt leben könnte.
    Irene stellte sich die Stadt ohne Menschen vor. Sie spürte die Nähe eines Wassers und eines Gebirgs. Diese Nähe war kühl. Sie war nicht gedacht als Flucht, diese Nähe. Es war eine Nähe, die man nicht betreten mußte.
    Nicht nur Marburg, auch andere Städte wurden immer fremder, je öfter Irene sie besuchte. Es waren die Städte, in denen Menschen lebten, die ihr nahestanden.
    Irene hatte das Gefühl, durch ihren Blick auf diese Städte, die Menschen, die ihr nahestanden, von denStädten zu entfernen. Sie gab sich Mühe, ihre Fremdheit nicht zu zeigen.
    Doch die Menschen, die Irene nahestanden, ließen keine Gelegenheit aus, ihr zu zeigen, wie nahe ihnen diese Städte standen.
    Sie wußten sehr genau, was sie an jedem Ort tun sollten.
    Sie kauften sehr rasch ein. Bestellten sofort einen Kaffee. Berührten im Vorbeigehen Schaufenster, Wände und Zäune. In den Parks rissen sie vom ersten Strauch ein Blatt ab. Nahmen das Blatt sogar in den Mund. Auf Brücken ließen sie Steine ins Wasser fallen. Auf Plätzen setzten sie sich auf die erste Bank. Schauten nicht um sich. Fingen sofort an zu reden.
    In den großen Straßen, wo es vor Menschen wimmelte, konnten sie den Passanten geschickt ausweichen. Irene blieb einen Schritt hinter ihnen zurück.
    Dann sah Irene, daß die Menschen, die ihr nahestanden, die Stadt, in der sie lebten, auf dem Rücken trugen.
    In diesen Augenblicken wußte Irene, daß ihr Leben zu Beobachtungen geronnen war. Die Beobachtungen machten sie handlungsunfähig.
    Wenn sich Irene zu Handlungen zwang, waren es keine. Sie blieben in den Anfängen stecken. Es waren Anfänge, die zusammenbrachen. Nicht einmal die einzelnen Gesten blieben ganz.
    So lebte Irene nicht in den Dingen, sondern in ihren Folgen.
    Wege, die Irene mit Franz oder anderen gegangen war, ging sie noch einmal allein.
    Sie brauchte Vorwände und Ausreden, um das zu tun.
    Manchmal mußte sie sogar lügen.
    An den großen Straßen, wo man so weit hinaussah, daß die Autos eine Weile durch die Bäume fuhren, als würden sie zerstäubt, standen Astern. Sie knisterten und waren schwer. Sie rochen nach Wasser und Salz.
    Wenn Irene an Astern vorbeiging und allein war, dachte sie jedesmal: Man müßte in dieser Stadt eine Blumenvase haben oder ein Grab.
    Das sagte Irene den Menschen, die ihr nahestanden, nicht. Nur, daß es an den großen Straßen, wo man so weit hinaus sah, daß die Autos eine Weile durch die Bäume fuhren, Astern gab, das sagte sie.
    Und jedesmal, wenn sie das sagte, bewegte sich etwas in den Menschen, die ihr nahestanden.
    Straßen, Autos, Bäume und Blumen, das war es nicht gewesen. Nur der Zusammenhang.
    So gefühllos hatten sie sich eingenistet, daß der Zusammenhang sie quälte. Wie ein spitzer Gegenstand drang er in sie ein. Sie wurden hilflos, daß Irene hinter dem, was sie soeben sagte, gern verschwunden wäre.
    Wenn das am ersten Tag geschehen war und wenn Irene danach ein paar Tage blieb, waren alle Tage nur noch Abschied.

    Ein Denkmal stand auf dem Platz. Der Taxifahrer las Zeitung. Irene stieg ein. Irene stieg wieder aus:
    Nein, sie wollte Franz nicht sehn.
    Die nackte Frau stand im Wasser. Um das Wasserstanden Bänke. Die Sonne fiel aus einer Richtung. So lag das Wasser des Springbrunnens halb in der Sonne und halb im Schatten.
    Auf dem Platz bewegte sich niemand. Auf den Bänken, die in der Sonne standen, saßen Männer. Sie zerrieben Brot auf dem Steinrand des Brunnens.
    Die Männer sprachen nicht miteinander. Sie schauten einander nicht an. Taten nur alle dasselbe: stundenlang zerrieben sie Brot auf dem Steinrand.
    Es war eine Qual, daß die Männer so lange Brot zerrieben. Denn auf dem Denkmal oben saßen graue Vögel. Die waren nicht größer als Finger. Sie zitterten vor Ungeduld.
    Als die Sonne hinter ein Hochhaus zog, war das Wasser ganz

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