Reiterhof Birkenhain 03 - SOS Pferd verschwunden
abzuschließen.«
Jule atmete tief durch, als sie die Haustür ins Schloss fallen hörte. Endlich allein!
Sie war sicher, dass ihre Mutter sich nicht sonderlich dafür interessierte, was und wie viel sie vor der Schule aß. Bestimmt war sie in Gedanken schon in ihrem Versicherungsbüro.
Jule blickte auf die Uhr. Gleich acht. Sie hätte längst auf dem Fahrrad sitzen müssen, wenn sie pünktlich in der Schule sein wollte.
Freitags stand in der ersten Stunde Mathe auf dem Stundenplan. Der Gedanke an Studienrat Träger und seine Art, die Klasse zu Unterrichtsbeginn mit Bruchrechnen zu nerven, stimmte Jule etwas fröhlicher. Heute entging sie ihm ja! Sollte er doch die anderen ärgern. Trägers Stimme klang wie ein Peitschenknall, wenn er durch die Tischreihen schritt und mit ausgestrecktem Zeigefinger auf sein Opfer zeigte: »Du! Fünf Sechstel plus drei Viertel - den gemeinsamen Nenner, schnell!« Dr. Träger schien einen Extra-Lehrer-Sinn für Schüler zu haben, die nicht ausgeschlafen hatten. Oder die mit ihren Gedanken weit weg waren, zum Beispiel in einem 2,5 Kilometer entfernten Stall, bei einer braunen Holsteiner Stute...
Wenn er seine pfeilschnellen Fragen stellte, würde sie schon auf Sally sitzen und in Richtung Geheimwiese reiten.
Ja, heute wollte sie mit Sally die Flucht ergreifen. Vor Dr. Träger, seinen Mathestunden und ihren Eltern mit dem blöden Stallverbot.
Jule wusste auch genau, wohin die Flucht gehen sollte. Bei ihrem letzten Tagesausritt hatte sie eine abgelegene Weide hinter dem Golfplatz entdeckt. Herr Jensen hatte berichtet, dass der Besitzer erst im Spätsommer Pferde hinbringen wollte. Also das ideale Versteck!
Jule schnitt zwei Brötchen auf, bestrich sie dick mit Butter und belegte sie mit Tomatenscheiben. Dann wickelte sie den Proviant sorgfältig in Alufolie ein. Das war's also. Mit den Vorräten, die sie bereits in den vergangenen Tagen mit dem Fahrrad zum Unterstand auf der Weide geschafft hatte, konnte sie wohl vier oder fünf Tage auskommen. Mindestens. Dann würde man weitersehen.
Jule stopfte die Brötchen in ihre Jeansweste. Reithose und Stiefel lagen schon versteckt in der Garderobe bereit. Rasch tauschte sie die Schul jeans gegen die Reithose aus. Jetzt aber nichts wie weg. Raus, bevor sie es sich anders überlegte! Leise zog sie die Haustür hinter sich zu, schloss zweimal ab und warf den Schlüssel in den Briefkasten.
»Na, heute schulfrei?«
Jule fuhr zusammen, stieß eine leise Verwünschung aus und sah sich um. Gott sei Dank, Herr Friedmann, ihr Nachbar. Mit einer Dose blauer Farbe kniete er neben seinem Vorgartenzaun. Schon zum zweiten Mal in diesem Frühjahr musste er die Latten streichen, weil der Lack ständig abblätterte. Sein Enkel Forian war mit Jule in die Grundschule gegangen.
»Ja, ausnahmsweise«, rief sie ihm so ruhig zu, wie das mit einem Bienenschwarm im Magen möglich war. »Grüßen Sie Flori!«
Dass Herr Friedmann sie ausgerechnet an diesem Morgen sehen musste! Bestimmt konnte er später der Polizei genau beschreiben, was sie anhatte. Jule wusste jetzt schon, wie die Suchmeldung lauten würde: »Als Julia Ahrend zuletzt gesehen wurde, war sie bekleidet mit hellblauer Jeansweste, weißem T-Shirt, dunkelroter Reithose und schwarzen Reitstiefeln.«
Egal. Nun aber los!
Im Stall war wie immer am Freitagmorgen tote Hose. Auf dem Parkplatz stand nur ein einziges Auto - der rote Golf von Doris Vogel. Der weiße Pick-up-Lastwa-gen von Reitlehrer Jensen war weg, was darauf hindeutete, dass er endlich zum Zahnarzt gefahren war. In den vergangenen Tagen hatte er sich ständig mit schmerzverzerrtem Gesicht an die Backe gefasst und gestöhnt: »Das Ding muss raus, das Ding muss raus.« Mit Ding war eindeutig sein Backenzahn gemeint.
Vorsichtig warf Jule einen Blick in die Reithalle. Frau Vogel mühte sich angestrengt ab Lotta in den Rechtsgalopp zu bekommen. Vergebens wie immer. Unter der Reitkappe leuchtete ihr puterroter Kopf. Es bestand nicht die geringste Gefahr, dass sie das Mädchen an der Tür entdeckte. Eher dass sie mit einem Herzschlag vom Pferd fiel.
Jule schlich in die Sattelkammer und hob Sallys Zaumzeug und Sattel vom Holm. Wie gewöhnlich ging sie unter dem Gewicht etwas in die Knie. Aber diesmal hatte sie das Gefühl noch tiefer zu Boden gedrückt zu werden, so schwer lastete der Sattel auf ihren Armen. Lag es daran, dass sie kaum einen Bissen gefrühstückt hatte und ihr deshalb plötzlich die Knie zitterten? Oder war es die Angst vor dem
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