Renate Hoffmann
farblos.
Normalerweise hätte Frau Hoffmann nun das Bad verlassen. Normalerweise hätte sie sich darüber gefreut sich nicht länger im Spiegel ansehen zu müssen. Doch an diesem Tag entschied sie sich anders. Sie kramte im obersten Fach des Regals, das zu ihrer Rechten stand, in einer an grotesker Kitschigkeit und Geschmacklosigkeit kaum zu überbietenden Schatulle. Wenige Sekunden späte – Frau Hoffmann wusste schließlich, wo sie ihre Habseligkeiten hatte – spannte sie triumphierend ein graues Haargummi zwischen Zeigefinger und Daumen der rechten Hand. Sie nahm ihre wenigen dünnen, fransigen Haare zu einem Büschel zusammen und wickelte den Gummi vier Mal herum, dann musterte sie ihr Spiegelbild. Und als wäre das nicht schon genug Veränderung für einen Tag gewesen, griff sie nach einem schweinchenrosanen Beutel, holte mit spitzen Fingern eine goldene Quaste hervor, öffnete sie und strich vorsichtig roséfarbenes Rouge mit einem staubigen Pinsel auf ihre markanten Wangenknochen.
Zufrieden betrachtete sie ihr Werk. Selbstverständlich war die Veränderung nur minimal, doch immerhin war es eine Veränderung. Ihre Wangen schimmerten in einem zarten, gesunden Ton, ihr vorhangähnliches Haar war straff zu einem kleinen Dutt drapiert. Frau Hoffmann schaute auf die Uhr. Für einen kurzen Augenblick zuckte sie der späten Uhrzeit wegen zusammen, dann fasste sie sich und verließ das Badezimmer, jedoch nicht ohne ein letztes Mal einen schüchternen Blick in den Spiegel zu werfen. Sie war zufrieden.
In der U-Bahn meinte Frau Hoffmann zu sehen, dass ein Mann sie anlächelte, was nicht den Tatsachen entsprach, denn er lächelte einer Frau zu, die hinter Frau Hoffmann saß. Das änderte jedoch nichts daran, dass Frau Hoffmann sich an diesem Tag schöner fühlte als sonst, denn sie wusste schließlich nicht, dass sein Lächeln nicht ihr gegolten hatte. Beschwingt verließ sie zwei Stationen später die U-Bahn. Sie war gut gelaunt. Die Sonne strahlte wärmend auf ihren Rücken. Die großen Bäume sahen nicht länger aus wie leblose Holzskelette. Die ersten Blätter zeigten stolz ihre hellgrün leuchtenden Kleider. Der Frühling lächelte Frau Hoffmann entgegen und sie lächelte zurück.
Sie öffnete die Tür zu ihrem Büro, ging zum Fenster und kippte es einen Spalt, dann legte sie den Mantel und den Schal ab und machte sich an die Arbeit. Etwa drei Stunden später klopfte es. Vertieft in diverse komplizierte Buchungssätze reagierte sie erst nicht darauf. Als es dann jedoch ein zweites Mal klopfte, schaute sie auf, räusperte sich und sagte, Ja, bitte. Die Tür wurde einen Spalt weit aufgeschoben, dann steckte zu Frau Hoffmanns größter Verwunderung Herr Hofer seinen Kopf ins Zimmer. Er lächelte. Frau Hoffmann stand auf.
„Oh, nicht doch, bleiben Sie doch bitte sitzen“, sagte Herr Hofer freundlich. Er öffnete die Tür und trat ein. „Ich wollte nur sehen, ob es Ihnen besser geht.“ Frau Hoffmann sagte nichts, sie setze sich auch nicht wieder hin. Sie stand nur da und starrte Herrn Hofer entgeistert an. Als Frau Hoffmann nach einigen Sekunden noch immer nichts gesagt hatte, befeuchtete Herr Hofer verunsichert seine Lippen und ging rückwärts in Richtung Tür. „Wie es scheint, geht es Ihnen wieder besser“, stammelte er kaum hörbar vor sich hin. „Ich wollte Sie nicht bei der Arbeit stören.“ Er drehte sich um und öffnete die Tür. Noch immer stand Frau Hoffmann wie festgetackert hinter ihrem Schreibtisch, ihre Hände lagen auf der Tischplatte.
„Es geht mir viel besser“, platze es unvermittelt aus ihr heraus. Ihre Stimme war schrill, was sie für gewöhnlich nie war. Herr Hofer zuckte zusammen, blieb stehen und drehte sich wieder zu ihr. In seinem Gesicht blitze für den Bruchteil einer Sekunde Erleichterung auf. „Und Ihnen?“, fragte Frau Hoffmann. Ihre Stimme klang unnatürlich laut. Es kam eher einem Schreien gleich als einer normalen Frage.
„Mir?“, fragte Herr Hofer verständnislos.
„Ich meine, wie geht es Ihnen?“ Sie redete noch immer viel zu laut. Sie klang wie jemand, der versuchte sich mit einem schwerhörigen zu unterhalten.
„Mir geht es sehr gut, danke“, sagte Herr Hofer und lächelte verhalten, dann drehte sich erneut zur Tür. Und dieses Mal ging er wirklich.
Frau Hoffmann blieb wie angewurzelt stehen. Vor ihrem inneren Auge ließ sie die Situation noch einmal Revue passieren. Wieso in aller Welt hatte sie ihn bloß so angeschrien? Irritiert und verwirrt setzte
Weitere Kostenlose Bücher