Rendezvous mit Übermorgen
dargestellt war.
O'Toole trat an den kleinen Verkaufsstand neben dem Aufzug und mietete eine 45-Minuten-Audio-Führungskassette. Das zehn Zentimeter kleine Flachpack passte glatt in seine Manteltasche. Er nahm einen der winzigen Einwegempfänger und steckte ihn ins Ohr. Dann wählte er »Englisch« und drückte das Knöpfchen mit der Bezeichnung »Einführung«. Dann lauschte er einer weiblichen britischen Stimme, die ihm erläuterte, weis er gleich sehen würde.
»Alle zwölf Fresken haben eine Höhe von sechs Metern ...« Der General betrachtete dabei das Gesicht des Säuglings Michael in dem ersten Bild. »Die Beleuchtung in diesem Raum ist eine Kombination von natürlichem Außenlicht, das durch filternde Deckenfenster hereinkommt, und Kunstlicht aus den Elektronikanlagen in der Kuppel. Automatische Sensoren bestimmen die Umweltbedingungen und mischen natürliches und Kunstlicht, sodass stets eine optimale Beleuchtung der Fresken gewährleistet ist.
Die zwölf Paneele hier oben entsprechen den zwölf Nischen im Untergeschoss. Die Fresken stellen das Leben des Heiligen in chronologischer Folge dar, und zwar im Uhrzeigersinn. Deshalb befindet sich die Darstellung der Heiligsprechungszeremonie in Rom im Jahre 2188 unmittelbar neben dem Bild seiner Geburt, zweiundsiebzig Jahre vorher, in der Kathedrale von Siena.
Die Fresken wurden von einer Künstlerquadriga entworfen und gestaltet, unter ihnen der Meister Feng Yi aus China, der im Frühjahr 2190 ohne vorherige Ankündigung hier erschien.
Obwohl außerhalb Chinas kaum etwas über seine Fähigkeiten bekannt war, überzeugten die exzellenten Skizzen, die Feng Yi mitgebracht hatte, die drei ursprünglichen Künstler sofort. Und so hießen Rosa da Silva aus Portugal, Fernando Lopez aus Mexiko und Hans Reichwein aus der Schweiz ihn in ihrer Mitte willkommen.«
Der General blickte im Raum umher, während er der Singsangstimme lauschte. Es waren an diesem letzten Tag des Jahres 2199 über zweihundert Menschen im Oberstock des Sankt-Michaels-Schreins versammelt, darunter drei Ladungen von Massentouristikgruppen. OToole zog langsam seinen Kreis durch den Saal, blieb vor jedem Bild stehen, bewunderte die Kunstfertigkeit und lauschte dem Diskurs auf der Kassette.
Wichtige Ereignisse in der Vita des Heiligen waren im Einzelnen auf den Fresken festgehalten: Auf dem zweiten bis fünften war sein Leben als Novize des Franziskanerordens in Siena geschildert, seine weltweite Queste, um der Wahrheit auf die Spur zu kommen, während das Große Chaos herrschte, die Anfänge seines religiösen Aktivismus bei der Rückkehr nach Italien, und wie er schließlich die Ressourcen der Kirche einsetzte, um die Hungernden zu speisen und den Obdachlosen eine Heimat zu schaffen. Das sechste Bild zeigte den unermüdlichen Heiligen in dem von einem reichen Bewunderer aus Amerika spendierten Fernsehstudio. Dabei verkündete Michael, der acht Sprachen beherrschte, wiederholt und immer wieder seine Botschaft von der fundamentalen Einheit aller Menschen und der Pflicht der Besitzenden gegenüber den Besitzlosen.
Das siebte Wandbild war von Feng Yi und stellte die stürmische Begegnung zwischen Michael und dem alten, im Sterben liegenden Papst in Rom dar. Der Kontrast war meisterhaft herausgearbeitet. Durch Farben und Licht brillant gezeichnet, sah man den energiegeladenen, von pulsendem Leben erfüllten strahlenden jungen Heiligen, wie er ungerecht von einem weltmüden Kirchenfürsten zurechtgewiesen wird, der nur eines im Sinn hat: sein Leben in Ruhe zu beenden. Sankt Michaels Gesichtsausdruck wies deutlich zwei gegensätzliche Reaktionen auf die Abkanzelung auf: Gehorsamsbereitschaft gegenüber der päpstlichen Autorität und verdrossene Angewidertheit darüber, dass die Kirche noch immer mehr Gewicht auf Äußerlichkeiten wie Zeremonialstil und hierarchische Regeln legte als auf die Glaubenssubstanz.
»Der Papst schickte Michael in ein Kloster in der Toskana«, fuhr die Audioführerin fort, »und dort vollzog sich die endgültige Verwandlung in seinem Wesen. Das achte Bild zeigt, wie Gott Michael in dieser Zeit der Weltabgeschiedenheit erscheint. Nach den Aussagen des Heiligen selbst hat Gott zweimal zu ihm gesprochen, das erste Mal während eines Gewitters, und das zweite Mal, als ein prächtiger Regenbogen sich über den Himmel spannte. Inmitten des heftigen Gewitters und unter Donnerkrachen verkündete Gott die neuen »Gesetze des Lebens<, die Michael später bei seinem
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