Renner & Kersting 02 - Mordswut
sie ins Lehrerzimmer hinein, wo Frau Stellmann gerade ihre Dose mit den Pausenbroten auf den Tisch stellte und verwundert zu Helga hinübersah, die normalerweise nicht so früh erschien.
„Morgen! In Ihrer Klasse ist doch eine Pia-Maria, nicht wahr?“
„Ja, warum? Morgen erst mal.“
„Gestern hat mich der Vater auf dem Flur erwartet und rumgeschimpft. Angeblich hat Niklas seine Tochter vergewaltigt. Ich hatte keine Lust, mich mit dem Brüllaffen zu unterhalten und hab ihn ziemlich kurz abgefertigt. Wissen Sie, was da eigentlich los ist?“
„Vergewaltigt? Hat er das wirklich gesagt?“ Die Stellmann kicherte. Das kam für Helga so unerwartet, dass sie die Kollegin überrascht anstarrte. Eigentlich kannte sie diese nur gereizt und nervös, auf Eltern und Kinder schimpfend, mit herabhängenden Mundwinkeln und glanzlosen Augen.
„Mit dem Kerl werden Sie noch Freude kriegen. Der ist explosiv wie ne Landmine, geht bei jeder Kleinigkeit hoch, nur um zu beweisen wie nahe er der Frau und ihrer Tochter steht. Er ist nämlich nicht der Vater, bloß der derzeitige Lebensabschnittsgefährte der Mutter. Eine Vergewaltigung hat es natürlich nie gegeben, sonst hätte ich längst mit Ihnen gesprochen. Niklas hat dem Mädchen befohlen, die Hose runter zu lassen, weil er mal sehen wollte, wie ein Mädchen da unten aussieht, das ist alles. Pia hat es als Ärgern empfunden. Da das Ganze auf dem Heimweg passiert ist, geht es die Schule nur indirekt an. Sie hat mir die Geschichte am nächsten Morgen während des Unterrichts erzählt und sich beschwert, dass Niklas sie geärgert hat. Aus Angst hat sie die Jeans ausgezogen, weiter ist sie nicht gekommen. Ihre Mutter wollte sie abholen und ist natürlich sofort eingeschritten, als sie ihre Tochter halbnackt da stehen sah. Ich habe mir den Jungen in der Pause vorgeknöpft und hielt die Sache damit für erledigt. So habe ich das auch der Mutter gesagt. Und auch, dass ihr Freund keinerlei Anspruch auf Auskünfte hat. Er ist nicht erziehungsberechtigt und hat hier in der Schule nichts verloren.“
So ähnlich hatte Helga sich die Sache vorgestellt, trotzdem wäre es ihr lieber gewesen, die Kollegin hätte ihr die Geschichte sofort erzählt. Sie wusste immer gern, welchen Blödsinn die Kinder ihrer Klasse anstellten.
„Und Pia-Maria hat das nicht als ... hm ... sexuellen Übergriff empfunden?“
„Ganz sicher nicht. Sie sprach völlig offen und locker darüber, beschwerte sich über den Jungen, der sie, wie schon gesagt, geärgert hatte. Da waren keinerlei Anzeichen von verletztem Schamgefühl, Angst oder Verstörung. Vielleicht wäre es anders, wenn sie die Unterhose auch hätte ausziehen müssen. Sie betrachtete es offensichtlich genauso als ärgern wie wenn er ihr die Mütze wegnimmt oder vor ihre Tonne tritt. Das hat er übrigens auch schon getan, wie ich bei der Gelegenheit erfuhr. Allerdings ist Pia-Maria diese Woche nicht zum Unterricht erschienen. Nach dem, was Sie mir erzählt haben, vermute ich, dass ihr Stiefvater, oder wie immer man den Kerl nennen will, das verhindert, um allen zu zeigen, wie schlecht es der Kleinen geht.“
„Genau den Eindruck machte er gestern.“
„Mit Niklas haben Sie aber auch eine Granate erwischt. Er macht einen ziemlich brutalen Eindruck und scheint sich gern die Schwächsten auszusuchen“, sagte Frau Stellmann halb mitleidig, halb schadenfroh. Auch sie hatte es mit ihrer Klasse nicht leicht.
„Das tut er immer. Was glauben Sie, wie oft ich schon mit der Mutter geredet habe? Aber da ändert sich nichts. Der Junge hat eben so seine besondere Art, erzählt sie mir regelmäßig, als würde ihr das gefallen. Na ja, vielleicht tut es das ja auch. Spätestens in der Pubertät wird sie merken, was sie sich da eingebrockt hat. Bis jetzt hatte ich immer gedacht, aus ihm würde einmal ein kleiner Ganove, aber wer weiß, vielleicht entwickelt er sich auch zum Spanner oder Exhibitionisten.“
Frau Stellmann grinste noch einmal, dann zeigte sie wieder den üblichen resignierten Gesichtsausdruck.
„Was werden Sie unternehmen?“
„Mit dem Jungen reden und die Mutter informieren. Mehr kann ich nicht tun.“
„Und das Jugendamt?“
„Nein. Wozu? Der Junge ist sauber und der Jahreszeit entsprechend gekleidet, bringt ein geschmiertes Butterbrot und Obst für die Pause mit, besitzt Hefte und Stifte – also im Vergleich zu vielen anderen Kindern ein Junge, der von seiner Mutter umsorgt wird. Kein Fall fürs Jugendamt, vor allem nicht, wenn Pia
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