Renner & Kersting 02 - Mordswut
auswendig. In den letzten Tagen hatten sie häufiger miteinander telefoniert, um über den Vertretungsunterricht und die Hochzeitsvorbereitungen zu sprechen.
Eine Männerstimme meldete sich. Vor Aufregung verhaspelte Helga sich und musste zweimal neu ansetzen, bis sie ihr Anliegen erklärt hatte.
„Frau Michalsen liegt mit einem Schock im Krankenhaus. Sie braucht Ruhe und darf keine Besucher empfangen.«
„Ja, aber ... sie hat hier keine Verwandte. Es muss sich doch jemand um sie kümmern. Wer sind Sie überhaupt?«
Sie war so nervös, dass sie sich nicht einmal erinnern konnte, wer sich da am Telefon gemeldet, beziehungsweise ob der sich überhaupt vorgestellt hatte.
„Masowski, Polizei.“
„Ach so, ja, eh ...“
„Wir werden Sie später besuchen, um Ihnen ein paar Fragen zu stellen. Jetzt kann ich Ihnen nicht mehr sagen.«
Helga legte auf. Jürgen Masowski war ein Kollege von Klaus. Das wusste sie. Vielleicht sollte sie ihren Freund anrufen. Mit zitternden Fingern wählte sie die vertraute Nummer. Doch Klaus war nicht im Büro. Sicher hielt er sich am Tatort auf, dachte sie, unfähig zu logischen Überlegungen. Seine Handynummer hatte sie noch nie benutzt. Sie wollte ihn im Dienst nicht stören. Er würde sich schon melden, schließlich war auch er zum morgigen Polterabend eingeladen worden und kannte die Namen des Brautpaares.
Helga hatte das Gefühl, etwas unternehmen zu müssen, wusste aber nicht was. Sie schaltete das Radio aus, dann wieder ein, als ihr einfiel, dass der Sender vielleicht mehr Informationen bringen könnte. Langsam ging sie zurück in die Küche und starrte das Desaster auf Tisch und Fußboden an. Der Rotwein hatte sich über den Küchentisch verteilt und tropfte blutrot auf den Boden, wo sich die Lache aus Bolognese, Wein und Nudeln langsam vergrößerte. Sie suchte nach einem Lappen, um das Malheur zu beseitigen. Als hätte diese Arbeit sie aller Energien beraubt, sank sie anschließend auf einen Stuhl. Wie glücklich war Andrea heute Morgen noch gewesen, und das gesamte Kollegium hatte sich mit ihr gefreut. Sie hatten schon lange nicht mehr gemeinsam gefeiert, und der Polterabend hätte sie einander näher bringen können. Damals, nach dem Skandal um die ermordeten Schüler, hatte Helga gedacht, nun würden alle zusammenhalten, sich auch privat ein wenig näher kommen, doch das Gegenteil war eingetreten. Jeder hatte sich abgeschottet, als hätte er Angst, mit der Täterin in Verbindung gebracht zu werden. Sie erledigten ihre Arbeit und fuhren mittags so schnell wie möglich heim. Die lockere Atmosphäre, die früher in den Pausen im Lehrerzimmer geherrscht hatte, war wie weggewischt, als befürchte jeder, zuviel von sich preiszugeben. Arme Andrea. Wer tat ihr so etwas an? Wie sehr musste der Mörder den Mann hassen, dass er ihn zwei Tage vor der Hochzeit umbrachte. Sie hatte bestimmt eine Stunde regungslos im Sessel gehockt, als das Telefon schrillte. Klaus! Endlich!
„Was ist passiert? Wie geht es Andrea? Und ist Kowenius tatsächlich ermordet worden?«, sprudelte sie in einem Atemzug heraus. „Arbeitest du auch an dem Fall? Masowski war am Telefon, als ich bei Andrea anrief, aber der wollte mir nichts sagen.«
„Langsam, Helga. Ja, ich war in der Wohnung von Kowenius, er wurde erstochen, und deiner Kollegin geht es den Umständen entsprechend.«
„Was soll das heißen?«
„Sie hat einen schweren Schock erlitten. Wir trafen sie neben der Leiche an, mit dem blutigen Messer in der Hand.«
„Mit dem Messer in der Hand? Soll das etwa heißen, du glaubst, dass sie selbst ...? Ausgeschlossen! Hast du vergessen, dass sie übermorgen heiraten wollten? Sie liebten sich.«
„Das weiß ich doch auch. Trotzdem sieht es im Moment so aus, als ob ... nun ja, wir müssen die Ergebnisse der Spurensicherung abwarten.« Das klang endgültig, als wolle er nicht mehr zum Thema sagen.
„Kommst du nachher noch vorbei?«
„Ich glaube nicht, nein, wir haben eine Menge Arbeit vor uns. Es wird sicher spät werden.«
Sie wusste, dass die ersten Stunden nach einem Mord die wichtigsten und arbeitsintensivsten waren. Doch die späte Zeit hatte ihn noch nie am Kommen gehindert. Helga ahnte, was in ihm vorging. Vermutlich steckte ihm noch ihre letzte unerfreuliche Auseinandersetzung in den Knochen. In den vergangenen Tagen hatte er mehrfach versucht, ihre Meinung zu ändern, hatte die Italienerin angeführt, die mit 63 Jahren noch ein Baby bekommen hatte und auch die modernen
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