Repuestos: Kolonie der Verschleppten (German Edition)
darauf verweisen, dass sie es waren, die den Samen zu eurer Selbstverneinung säten, die ringsum im Lande fröhliche Urständ feiert, ganz im Sinne der Lehrherren. Eure tollen Dichter der Gegenwart haben ihnen den Weg gewiesen und sie setzen Undercover ihr Werk fort bis zum jüngsten Tag … Und ihr, ihr atmet das ein, Stunde für Stunde. Und wenn eine Handvoll Schwachköpfe eure Sprache verhunzt, das einzig Wertvolle, das euch geblieben ist, dann seht ihr zu, wie der Unsinn Gesetz wird. Selbst das Nobelblatt, hinter dem immer ein kluger Kopf steckt, hat vor diesen Imbezilen kapituliert. Franzosen hätten ihnen was gehustet!“
„Mag sein“, erwiderte der Dicke mit der Hornbrille, der Buchhalter aus Heusenstamm, wie Edmund sich erinnerte, „aber husten hätten die Franzosen den Engländern was sollen, 1898, als sie von euch forderten, ihre Forschungsexpedition aus dem Sudan abzuziehen und bald mit ihnen den Schulterschluss gegen Deutschland einzugehen. Zu Kreuze gekrochen sind sie und haben mit den Briten die Suppe gekocht, aus der alles Weitere entstanden ist. Seitdem löffeln wir sie aus, meine Liebe, so sieht das doch aus …“
„Als ob ich das nicht wüsste, Sie rennen da bei mir offene Türen ein … Diese Seite meines heiß geliebten, verfluchten Landes lässt Carolus Magnus aus dem Hause der Karolinger bis heute im Grab um und um drehen. Allerdings brauchte Frankreich zu dem Wahnsinn keine Weisungen aus England. Es hat idiotischerweise Deutschlands Feinde durch Jahrhunderte unterstützt und euer Land unzählige Male angegriffen … die Pfalz verwüstet, Heidelberg zerstört, Worms, Speyer und viele andere Städte …“
„Alte Zöpfe, Schnee von gestern!“, rief eine Stimme aus der hintersten Ecke dazwischen, „alles längst Geschichte, aus, vorbei, vergangen. Vergangenheit!“
„Vergangenheit vergeht nie, Ulli Hohn!“, gab Nicole zurück, „sie bleibt auf ewig erhalten, frisst die Gegenwart auf und die Zukunft hinterher und wächst ins Unendliche! Frankreich hat Deutschland seit dem Mittelalter mehr als dreißig Mal überfallen und beraubt. Ich weiß, wovon ich rede, bin in einer Familie von Deutschenhassern aufgewachsen, in der man seit Jahr und Tag immer wieder voller Stolz auf all diese ‚heroischen‘ Taten zu sprechen kommt. Bei uns daheim gibt’s keine Feier ohne diese Leier.“
Nicole galt inzwischen die Aufmerksamkeit der Gäste und Bedienungen, ihre Worte wuchsen mehr und mehr zu einer auf Wirkung bedachten Rede aus. „Meiner Großmutter hat man vor dem Ersten Weltkrieg in der Schule weisgemacht, der deutsche Kaiser Wilhelm fresse kleine Franzosenkinder, das deutsche Volk quietsche vor Vergnügen darüber. Mit dieser Perspektive erzog sie meine Mutter und meine Mama freute sich königlich, als mein Vater, Angehöriger der Résistance, 1943 zwei deutsche Soldaten aus dem Hinterhalt erschoss. Die ganze Familie, Onkel und Tanten, alle fanden sich am Abend dieses Tages zusammen, um das Ereignis kräftig zu begießen. Noch heute brüstet sich das ganze Dorf dieser Ruhmestat.“
Nicole erforschte die Gesichter ihrer Zuhörer. Es herrschte totale Stille im Lokal. Nach einer Pause fuhr sie fort:
„Einem der beiden Erschossenen, Günter Fiebig, war erspart geblieben, dass um ihn getrauert wurde, denn sein Vater war bereits zu Kriegsbeginn gefallen und die Mutter mit seinen drei Schwestern unter Trümmern gestorben, unter Trümmern in Düsseldorf – die Ruhmestat englischer Bomber.
Herbert Weber war der zweite aus dem Hinterhalt erschossene Soldat, siebenundzwanzig Jahre, verheiratet. Er hatte zwei Töchter von drei und fünf Jahren und einen Sohn von sieben Wochen: Peter Weber. Weber ist mein Schwiegervater. Seinen Sohn, meinen Mann, lernte ich auf der Uni Frankfurt kennen, und nachdem er mir seine Geschichte anvertraut hatte, fuhr ich in den Semesterferien nach Hause und ging der Sache nach. Das erschütternde Ergebnis war – alles stimmte. Es war als Fußnote in der Gemeindechronik dokumentiert. Bin nicht besonders stolz auf uns Franzosen. Sie haben euch auch diesen letzten Krieg erklärt und schieben euch noch dazu die Schuld daran in die Schuhe.“
„Nicht allein die Franzosen tun das, alle Welt tut das. Geschichte ist eine Frage der Auslegung, und zwar der Auslegung durch die Sieger. Die Sieger bestimmen die Geschichte und waschen ihre Hände in Unschuld!“, meldete sich eine Stimme aus der hinteren Reihe und eine andere: „Das war schon immer so, die Besiegten sind
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