Repuestos: Kolonie der Verschleppten (German Edition)
in all den Jahren mit diesem Gedanken schon gespielt und wie viele versucht haben, ihn umzusetzen. Bis jetzt ist noch keinem die Flucht geglückt, sonst säßen wir nicht hier.“
„Wir werden es schaffen, irgendwie.“
„Hältst du uns für die Ersten, die das glauben?“
„Kaum. Aber für die Ersten, die es schaffen – vielleicht.“
„Ja. Vielleicht. Reden wir übermorgen darüber weiter. Nach dem Forum. Ihr seid doch auch dahin bestellt, oder?“
„Ganz recht, sind wir“, antwortete Angela, „und Gustav hat mir versprochen, vorher überhaupt nichts in dieser Richtung zu versuchen, nicht einmal in Gedanken.“
„Wie auch Gerd dringend empfiehlt.“
„Wo steckt er eigentlich?“, wollte Gustav wissen.
„Der macht sich unsichtbar. Er will uns vor der Unterrichtung im Forum nicht mehr sehen.“
„Merkwürdig.“
„Aber begreiflich.“ Das kam von einem Mann mittleren Alters, dessen rechtes Auge von einer schwarzen Klappe verdeckt war. „Entschuldigen Sie, aber Ihre Unterhaltung war nicht zu überhören … ich kenne Gerd gut. Dass er Begegnungen mit Ihnen bis nach dem Seminar im Forum hinausschieben möchte, liegt daran, dass ihm die Geheimniskrämerei, die wir Neuen gegenüber an den Tag legen müssen, aufs Gemüt geht. Es geht mir nicht anders. Ich bin Jakob Schieferstein. Darf ich mich zu euch setzen?“
„Aber klar doch“, sagte Gustav und legte die Karte beiseite.
Jakob setzte sich. „Ihr werdet schon alles noch früh genug erfahren. Dass wir Gefangene sind, habt ihr wohl von selbst schon gemerkt, Gefangene auf Lebenszeit.“
Sie gaben ihre Bestellungen auf und verfielen in Schweigen, das auch während des Essens auf der Runde lastete. Nachdem Jakob mit einem kurzen Nicken gegangen war, fragte Edmund seinen alten Schulfreund danach, wie er in die Fänge der Häscher geraten war. Gustav beschrieb seine Reise von der Welt zur Hölle und sagte zum Schluss: „Nachdem man Angela im Hausflur geschnappt und fortgeschleppt hatte, hat mir ein Typ, dessen verschlagene Visage ich nie im Leben vergessen werde, aufgelauert, bis er Gelegenheit fand, mir weiszumachen, er könne mich zu ihr führen.“
„Wieso weiszumachen?“ Angela lachte sarkastisch auf. „Hat er oder hat er nicht?“
Edmund erhob sich. „Kinder, ich lass euch jetzt allein. Ich muss zum Unterricht.“
„He???“ Entsetzen spiegelte sich in Gustavs Gesicht.
„Eine Leidensgenossin wünscht, dass ich sie beim Auffrischen ihrer Mathekenntnisse unterstütze. Bin mit ihr verabredet.“
„Mann, kannst du einen erschrecken, ich dachte schon …“, sagte Gustav und zeigte Scheibenwischer an.
Edmund war zu früh im Atelier, von Hannelore war noch nichts zu sehen. Es roch nach Kreide, Farbe und Leinöl. Nahezu alle Plätze waren belegt. Die Besucher schwiegen, in ihre Arbeit vertieft oder einer Meditation hingegeben, wozu die Atmosphäre hier im Saal geradezu einlud. Die Kirchenstille störte ihn. Es war, als untersage sie ihm zu atmen. Er schlich durch die Reihen der Schaffenden zum Ausgabeautomaten. Eine Frau mit langen, blonden Haaren kauerte vor ihrer Staffelei und weinte leise. Edmund betrachtete ihr halb fertiges Bild. Es beeindruckte ihn. Ein mit wenigen Farben sehr überzeugend auf die Leinwand gebrachter Drachen mit Menschenfratze. Die Schultern der Malerin zuckten. Edmund beugte sich zu ihr hinab und flüsterte: „Versuchen Sie, etwas Trost darin zu finden, dass wir alle hier unten Ihr Schicksal teilen. Vielleicht werden wir ja mit Gottes Hilfe doch noch aus den Klauen des Leviathan gerettet. Er ist es doch, den Sie da auf die Leinwand bannen?“
Sie nickte und wischte sich mit dem Handrücken die Tränen aus dem Gesicht.
„ Oben ist mir kein Bild geraten“, flüsterte sie zurück, „alle haben meine Malversuche belächelt – seit ich hier bin, gelingt es mir, meine Fantasien umzusetzen, doch wozu – für wen?“
„Deshalb weinen Sie?“
„Ja. Ist das kein Grund?“
Edmund war sprachlos. Ihr Kummer galt entgangener Bewunderung oben in der Welt. Ein unbewusster Trick? Angst in Geltungssucht umzumünzen? Nicht auszuschließen. Er folgte nicht seinem Impuls, das Mädchen mit Fontanes kleinem Quell unter grasbedeckten Wiesen zu trösten.
„Seit wann sind Sie in Repuestos? “
„Seit einundzwanzig Wochen und zwei Tagen.“
Wie wird es um mich bestellt sein – in einundzwanzig Wochen und zwei Tagen?, fragte er sich.
„Malen Sie weiter, ohne zu fragen. Freuen Sie sich über jedes Bild, das
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