Repuestos: Kolonie der Verschleppten (German Edition)
grundsätzlich schuldig.“
„Und ihr glaubt das bis heute!“, rief Nicole. „Macht doch endlich die Augen auf, ihr Narren! Fegt die Schutzbehauptung der Gutmenschen & Co. beiseite, das seien rechtsradikale Thesen. Lasst Euch nicht in die falsche Ecke stellen, um eingeschüchtert, mundtot gemacht zu werden, verdammt nochmal!“
Nicole, die ihre Rede mit dem Kopf und einem Arm heftig unterstrichen hatte und dabei von ihrem Stuhl aufgesprungen war, hatte sich in Schweiß geredet, er tropfte ihr von der Stirn und nässte den weißen Overall an vielen Stellen. Erschöpft sank sie schwer atmend auf ihren Stuhl zurück.
„Die Iren lassen sich nicht hinters Licht führen“, pflichtete der Dicke ihr bei, die Perspektive wechselnd. „Sie verweisen auf Frank Delaneys Irland-Saga ‚Schwert und Harfe‘ (Fußnote: Deutsche Übersetzung Knaur-Verlag 2006), besonders auf jene Passagen, die Oliver Cromwell als Massenmörder in Irland kennzeichnen, denselben Cromwell, der in Geschichtsbüchern und in den Schulen als berühmter Staatsmann, der das britische Weltreich begründete, gehandelt wird. Der Schurke hatte in Drogheda gewütet. Fast die gesamte Bevölkerung eingeschlossen und abgeschlachtet und die wenigen Überlebenden als Sklaven auf die westindischen Inseln geschickt.“
„Dazu brauchen wir nicht bis nach Irland und auch nicht Jahrhunderte zurückzugehen!“, rief Jochen Jacobson, Beispiele surrten als Wort- und Satzfetzen durch die Luft – „Bromberger Blutsonntag!“ – „Churchill und Dresden“ – „Bomberharry“.
Die Erregung ließ das Lokal vibrieren und Angelas Kummer in den Hintergrund drängen. „Um was die sich kümmern, heute und hier“, wunderte sie sich.
„Ist gut für sie, das lenkt ab“, meinte Edmund trocken, „und wir, wo waren wir stehen geblieben?“
„Wir wollten zu unserer Ablenkung die Kriterien herausfinden, nach denen wir ausgesucht wurden.“
„Beginnen wir damit, dass wir so viel wie möglich voneinander erzählen und dabei besonders die letzten Wochen und Monate unter die Lupe nehmen. Mit etwas Glück finden wir einen gemeinsamen Nenner.“
Programmierte Dimmer glichen in Repuestos den Wechsel von Tag und Nacht der Realität oben in der Welt an, samt Morgen- und Abenddämmerung. Die Laternen beleuchteten in der Dunkelheit Pfade und Gassen. Edmund, Gustav und Angela verließen den „Tulpenkorb“ am frühen Abend. Die Dämmerung ging in Nacht über und jeder der drei kannte die Lebensumstände der beiden anderen. Eine prägnante Gemeinsamkeit als möglichen Grund ihres Hierseins hatten sie nicht herausfinden können.
In seiner Zelle fiel von Edmund alle Zuversicht ab. Er warf sich aufs Bett und weinte wie ein Kind, das sich verirrt hatte und nicht nach Hause fand. „Lieber Gott, schick mir Lydia im Traum“, betete er und weinte sich in den Schlaf. Vor Mitternacht wachte er mit einem Schrei aus einem Albtraum auf. Von Lydia hatte er nicht geträumt, sondern von zappelnden Armen und Beinen in spritzender Gischt, der zuletzt ein Krokodil entsprang mit Hennings glotzenden Augen, das Maul weit aufgerissen, mit tausend messerscharfen Zähnen. Er war schweißnass und fror. Er stellte sich unter die Dusche und drehte das heiße Wasser so weit auf, wie seine Haut es nur zuließ, und legte sich hinterher, ins Badetuch eingewickelt, wieder schlafen. In dem Traum, in dem er sich diesmal wiederfand, kam Lydia auf ihn zu – zu seiner Bestürzung ohne Gesicht. Auch am Morgen, als er aufwachte, versuchte er vergeblich, sich ihr Antlitz in Erinnerung zu rufen. Er hatte ihre Gestalt vor Augen – ihre Hände glitten spielend über die Tasten des Klaviers, den kleinen, platingefassten Smaragd am Ringfinger der linken Hand – die Haare glänzten im Licht – doch ihr Gesicht blieb ebenso verborgen wie im Traum. Kokos Gesicht konnte er abrufen, auch das seiner Mutter und seines seit Langem verstorbenen Vaters, sogar jedes einzelne seiner Elf – Lydias nicht.
Pepe, Satan, Pepe, Satan, Aleppe.
Die Lagerklingel schrillte einen neuen Tag ein.
***
Teil 2
Der Seminarraum im „Forum“ bot etwa sechzig Personen Platz. Anwesend waren zehn. In der vordersten Reihe sechs Neuzugänge, an der Wand gegenüber dem Eingang digital als Novizen begrüßt, in der zweiten vier Betriebsschützer. Als elfte Person wäre der Redner zu nennen, der Mann auf dem Bildschirm. Geduldig wartend beobachtete er sein kleines Publikum, das sich auf den Stühlen
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