Requiem für eine Sängerin
ab. Irgendetwas war nicht im Gleichgewicht, ein winziger Sachverhalt stach hervor und piekste ihn jedes Mal, wenn er ihn streifte, aber er bekam ihn nicht zu fassen.
Ein leises, knirschendes Geräusch von oben ließ Fenwick aufhorchen. Octavias Stimme hallte in dem hohen Gewölbedach wider. Er suchte ihr Foto in dem Programmheft. Sein Schweiß hatte Flecken auf dem Papier hinterlassen, und er hatte Druckerschwärze an den Handflächen. Eine Seite musste er regelrecht vom rechten Handballen schälen; er hatte das Heft so fest umklammert, dass sie sich festgesaugt hatte. Er konzentrierte sich auf den verschmierten Text neben Octavias Foto: «Besonders freue ich mich auf meine nächste Tournee. Sie wird die größte Herausforderung meiner bisherigen Laufbahn sein. Und wenn ich zurückkehre, werde ich mit den Aufnahmen für meine Platte beginnen. Da es die erste persönliche Zusammenstellung sein wird, habe ich die Plattenfirma natürlich sehr sorgfältig ausgesucht …»
Erinnerungen an die vergessene Unterhaltung mit Octavia dämmerten Fenwick. Sie hatten sich über ihre Karriere unterhalten, und sie hatte den Plattenvertrag erwähnt, hatte betont, wie wichtig er sei, wie viel Geld sie damit verdienen könne. Hätte sie da einer Aufzeichnung dieses Konzerts zugestimmt? Was hatte sie gesagt? Etwas über Exklusivität. Fenwick hielt verzweifelt Ausschau nach dem Vorsitzenden des Komitees, aber der saß in der ersten Reihe. Konnte er wegen eines vagen Verdachts einen kompletten Abbruch der Aufführung riskieren?
Oben auf dem Triforium holte Rowland die fünf simplen Bauteile der Waffe aus ihren Gehäusen und Filzhüllen; ein paar Kästen mit sinnlos blinkenden Lichtern schirmten seine Bewegungen ab. Die Leute gingen davon aus, dass ein Tontechniker von seltsamen Metallgerätschaften und meterlangen Kabeln umgeben sein musste ; jedes Teil für sich war hinreichend unschuldig. Der lange Mikrofonarm, der über einen Balken vorragte, lieferte die Stütze für ein Visier mittlerer Reichweite, das aufgrund von Messungen während der Probe und der vergangenen Woche genau auf die Brust der Sopranistin gerichtet sein würde. Es war höchst hilfreich gewesen, genau festzustellen, wo die einzelnen Solisten stehen würden. Das Zielfernrohr mit großer Reichweite ragte um Millimeter aus einem plüschigen Schalldämpfer heraus; das andere sah aus wie ein Klumpen Lötzinn.
Er arbeitete präzise nur mit dem Tastsinn, während er den Blick unverwandt auf Anzeigen und Lämpchen gerichtet ließ. Erst als das letzte Teil eingerastet war, riskierte er einen Blick, um zu prüfen, ob alles richtig saß. Er zog den Draht zurück und richtete ihn so ein, dass er vom Auslöser freigesetzt werden konnte. Der Bolzen lag in einer Tabaksdose aus Blech, gepolstert mit Old Virginia und Rizla-Blättchen. In die Dose hatten sie bei keiner Durchsuchung hineingeschaut.
Rowland öffnete den Deckel und registrierte verärgert das leise «Plop», mit dem das luftdichte Siegel aufplatzte. Einer der Trompeter drehte sich um und sah ihn kurz böse an. Er wühlte in dem feuchten Tabak, fand das glatte Metallteil und tastete sich zu der Spitze aus gehärtetem Stahl vor. Es waren zwei Bolzen in der Dose. Einen holte er heraus und legte ihn behutsam auf das Stück Filz an seiner Seite, den anderen ließ er oben auf der Dose liegen. Es war unwahrscheinlich, dass er ihn benutzen würde, aber er war lieber vorsichtig.
Er sah sich um. Sechs weitere Leute befanden sich in unmittelbarer Sichtweite auf der Empore, drei Trompeter und drei Polizisten – einer ganz rechts an der Tür, einer hinter den Musikern, die zwischen ihm und der Tür saßen, der letzte links von ihm am Ende der Galerie. Niemand bemerkte seine verstohlenen Blicke, auch wenn sich die Polizisten ständig immer wieder wachsam umschauten. Sicher waren sie im Gebrauch von Schusswaffen ausgebildet, aber er sah ihnen an, dass noch keiner von ihnen in einen ernst zu nehmenden Schusswechsel verwickelt gewesen war. Das war sein größter Vorteil. Aufgrund ihrer Unerfahrenheit würden sie zögern, bevor sie abdrückten, ganz gleich, welche Ausbildung sie erhalten hatten. Damit hatte er einen entscheidenden taktischen Vorteil.
Unter ihm hob die Mezzosopranistin zu einem weiteren Solo an; Rowland sah in seine Partitur, es war das «Liber scriptus». Alles passte auf so makabre Weise zusammen: «Und das Buch wird aufgeschlagen, Drin ist alles eingetragen …». Das Tagebuch hatte seinen Verdacht bestätigt
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