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Requiem für eine Sängerin

Requiem für eine Sängerin

Titel: Requiem für eine Sängerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Corley
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Treppe, die hinaufführte, war schmal und leicht zu versperren. Ihm blieb nichts anderes übrig, als ein Tau über das Geländer zu werfen und sich ins Kirchenschiff abzuseilen. An der Front wäre das Selbstmord gewesen, aber hier hatte er die Überraschung auf seiner Seite; die Polizei würde zögern, das Feuer zu eröffnen, und so hatte er eine Chance. An kühne, erfahrene und vor allem schnelle Täter waren sie nicht gewöhnt; das hatte er in London begriffen. Und falls es ihnen doch gelang, den Ausgang zu versperren, würde er einfach eine Geisel nehmen. Alles in allem fand er, dass die Chancen für eine Flucht nicht schlecht standen, wenn man das Chaos bedachte, das er auslösen würde, und den Widerwillen der Polizei, in der überfüllten Kirche zu schießen.
    Das Publikum war nicht sicher, ob es nach dem Auftreten des Dirigenten und danach der Solisten applaudieren sollte. Niemand fing an zu klatschen; Stille senkte sich über das Kirchenschiff. Der Chor stand auf, Kinder in den vorderen Reihen. Fenwick setzte sich.
    Die ersten Takte waren so leise, dass die Musik zu ihm vordrang, ehe er es richtig mitbekam. « Requiem , requiem aeternam .»
    Es hatte angefangen – so normal und friedlich, dass er beinahe überrascht war. Er sah Octavia, in ihrem auffälligen Kleid eine perfekte Zielscheibe, vor dem Chor sitzen. Neben ihr, auf der Höhe der Knie, sah er etwas, das er für Nightingales Kopf hielt. Überall in der Kathedrale sah er Beamte, die die Zuhörer beobachteten. Legte er den Kopf in den Nacken, sah er die Umrisse bewaffneter Polizisten Seite an Seite auf dem Triforium, unmittelbar hinter ihnen die Trompeter, die ihre Instrumente auf den Knien liegen hatten.
    Der Tontechniker stand im Verborgenen, aber seine Füße und das verkleidete Mikrofon, das aus der Balkenkonstruktion ragte, waren zu sehen. Alles wirkte vollkommen normal, das erste Solo ging ohne Zwischenfall über die Bühne. Fenwick stellte fest, dass er sein Programm zu einem dünnen, schweißfeuchten Knüppel zusammengerollt hatte. Er zwang sich, es wieder glatt zu streichen, blätterte mit nervösen, fahrigen Gesten darin herum und registrierte, dass Octavia zwei- oder dreimal abgebildet war.
    Auf den ersten Seiten war ein Interview mit ihr abgedruckt – ein Rückblick auf ihre Schulzeit, Ausblicke auf ihre nächste Tournee und den Plattenvertrag. Über ihm reagierten die Trompeter auf das Stichwort von den Bässen und weckten, dem Text zufolge, die Toten aus ihrem Schlaf. Sonst geschah nichts. Sie saß vollkommen ruhig da, und wenn sie dran war, bezauberte sie das Publikum durch ihre Präsenz und die Kraft ihrer Stimme.
    Im Fortgang der Aufführung, die reibungslos ablief, ohne Unterbrechungen oder verdächtige Bewegungen, verspürte Fenwick Erleichterung und Niederlage zugleich, hörte förmlich schon die gehässigen Bemerkungen, wenn mehr als hundert Beamte sich auf den Heimweg machten. Im Geiste überschlug er die Kosten dieses Polizeieinsatzes – auch noch am Wochenende –, die das Budget für das gesamte Quartal sprengen konnten. Und er würde zweifellos dafür verantwortlich gemacht werden. Dabei war er absolut sicher gewesen, dass Rowland an diesem Abend zuschlagen würde, und der Gedanke, dass er womöglich immer noch einen entscheidenden Hinweis auf den Aufenthaltsort des Mannes übersah, machte ihn verrückt.
    Er verdrängte die zunehmende Wahrscheinlichkeit einer persönlichen Niederlage und ließ die Ereignisse der vergan genen Tage noch einmal vor seinem geistigen Auge ablaufen – seine Gespräche mit Octavia, die Überprüfung aller Musiker, die endlosen Durchsuchungen der Kathedrale. Sein Instinkt sagte ihm, dass Rowland sich in dem Gebäude aufhielt. Dieser Aufführung nicht beizuwohnen hätte dem Mörder eine Vorsicht und Geduld abverlangt, die Fenwick ihm nicht mehr zutraute. Ungeachtet seiner Armeeausbildung war Rowland nun ein Jäger, der seit fast neun Monaten solo arbeitete. Er musste seine Beute bereits wittern, es war zu unwahrscheinlich, dass er sich jetzt einfach abwandte.
    Octavia hatte sich wieder erhoben, aber nichts geschah. Um ihn herum sondierten dreißig geübte Augenpaare Publikum und Künstler, hielten Ausschau nach Anzeichen einer Gefahr, nahmen aber offenbar nichts Ungewöhnliches wahr. Die Überzeugung, dass er etwas Entscheidendes übersehen hatte, wuchs unaufhörlich. Wieder ging er im Stillen sämtliche Berichte durch, an die er sich erinnern konnte, und spielte stumm noch einmal Octavias Aussagen

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