Rescue me - Ganz nah am Abgrund
jetzt? Jetzt waren wir keine Freunde mehr. Das war vorbei.
Wir hatten das Schulgelände erreicht. Ryan jammerte und ächzte leise, als er über den Lattenzaun kletterte. Mühsam humpelnd legte er den restlichen Weg zum Schulhof zurück, anscheinend hatte er starke Schmerzen. Ich sah bloß zu, tat nichts, um ihm zu helfen. Eigentlich hätte es sich gut anfühlen müssen. Genugtuung für erlittenes Unrecht bekam man schließlich nicht alle Tage, oder? Mir hatte ja auch keiner geholfen, damals, als ich aus dem Krankenhaus kam. Einen Arm und ein Bein in Gips. Nun konnte Ryan mal am eigenen Leib erfahren, was es hieß, allein zu sein. Niemanden zu haben, der einem half.
Aber wenn ich ehrlich war, fühlte es sich nicht gut an. Es fühlte sich mies an. Frustriert trat ich gegen eine leere Coladose, die auf dem Weg lag. Mit lautem Geschepper flog sie über den Schotter davon.
Es fühlte sich echt Scheiße an.
Als ich das Mountainbike sah, verzog ich unwillkürlich mein Gesicht. „Hu. Ist ja ein schicker Flitzer, den du da hast.“ Diese Bemerkung konnte ich mir nicht verkneifen.
Ryan schluckte und drehte sich weg, es sah aus, als würde er jeden Moment in Tränen ausbrechen. Ich wusste, wie sehr Ryan an dem Rad hing, es war eines der letzten Geschenke, die ihm sein Vater gemacht hatte. Doch jetzt war es nur noch ein Haufen Schrott. Die Reifen waren völlig zerschnitten und verbogen, jede Speiche eingetreten. Sah eher nach einem bizarren Kunstwerk, als nach einem Fahrrad aus. Auch ein Stoffrucksack war diesem Gemetzel zum Opfer gefallen. Überall lagen braune Fetzen und Papierschnipsel herum. Ich bückte mich nach einem der Blätter, bevor es über den Rasen davon wehen konnte.
Wer für diese Zerstörung verantwortlich war, war wohl kein Geheimnis. Allan und Bobby hatten ihre Wut an dem wehrlosen Fahrrad ausgelassen, weil sie Ryan nicht erwischen konnten.
„Was wirst du jetzt tun?“, fragte ich und stopfte meine Hände tief in die Manteltaschen. Nicht, dass ich noch auf dumme Gedanken käme, wie etwa Ryan zu trösten, den der Verlust seines Rades wirklich mitzunehmen schien.
„Nichts. Meine Mom anrufen.“ Ryan zog ein klobiges Handy aus der Hosentasche, drückte ein paar Tasten und lauschte.
„Hey Mom. Ich bin es. Ryan“, sprach er leise. „Kannst du mich abholen? Von der Schule? Wenn du Zeit hast? Äh, mein Fahrrad hatte einen … ähem, einen kleinen Zusammenstoß. Aber mir geht es gut.“ Er steckte das Handy wieder zurück und ließ sich neben dem Weg ins Gras sinken.
Ich blieb stehen und sah auf Ryan hinunter. Der hatte den Kopf auf die Knie gelegt und ignorierte mich. Sagte keinen Ton. Ich schwieg ebenfalls. Es gab nichts mehr zu sagen.
Ich sah zum Sportplatz hinüber. Von dort war lautes Geschrei zu hören. Unser Highschool Baseballteam hatte gerade mit dem abendlichen Training begonnen. Ich sah zu, wie die Cheerleader am Rande des Spielfeldes Aufstellung bezogen. Sie wedelten mit bunten, glitzernden Pompons und versuchten, ihr Team mit ihren Schlachtrufen anzufeuern. Früher hatte ich selber dort unten auf dem Spielfeld gestanden. Als Pitcher. Hatte mich anfeuern lassen. Ich zog die Schultern hoch.
Früher. In einem anderen Leben.
Drei
Ryan blendete Mrs. Escalona, die Spanischlehrerin, aus. Die Vokabeln, die sie abfragte, beherrschte er im Schlaf. Kelly, ein sehr blondes, aber auch sehr dummes Cheerleader-Püppchen war an der Reihe. Wie immer konnte sie keine Vokabel richtig übersetzen. „El entrenador heißt … heißt … äh … el … der … oh, Mann!“ Sie verstummte hilflos.
El entrenador – der Reisebus. So ein Babykram! Siebte Klasse!
Am liebsten hätte er den Kopf auf die Tischplatte gelegt und die Augen geschlossen. Er war müde. Und jeder Knochen in seinem Körper tat weh. Sein Kinn war blutverkrustet und brannte immer noch wie Feuer. Zwei Nächte hatte er schon wach gelegen und nachgedacht. Nicht über Allan und Bobby, über diese beiden Idioten brauchte man nicht nachdenken. Nein, er hatte über Tyler nachgegrübelt.
Wie lange hatte der jetzt schon nicht mehr mit ihm gesprochen? Fast zwei Jahre. Seit dem schrecklichen Unfall, bei dem sein Dad und der von Tyler ums Leben kam. Zwei Jahre. So lange. Und plötzlich und unerwartet trafen sie wieder aufeinander. Buchstäblich.
„Ryan, ¿dónde estás con tus pensamientos? Por favor pase adelante!” Mrs. Escalona stand plötzlich vor ihm und starrte über den Rand ihrer gestrengen Brille böse auf ihn herab.
Ryan
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