Rescue me - Niemand wird dich schützen
denken, die ihre Mutter gesagt hatte. Sie wusste schon lange, dass Alise sie hasste, also dürfte sie eigentlich nichts mehr überraschen, was ihre Mutter ihr an den Kopf warf. Vor allem wollte Devon ihren Kummer darüber verdrängen, dass sie nächstes Jahr ins Internat musste. Henry würde sie niemals grundlos wegschicken. Gewiss war die Schule eine der besten, denn bei aller Gemeinheit ihrer Mutter, hatte ihr Stiefvater stets nur Devons Wohl im Sinn.
Ihre grauen Augen blickten leer in den Spiegel, als sie ihre blonden Locken mit einem Haargummi bändigte. Es war wahrlich ein Glück, dass Henry ihre Mutter geheiratet hatte. Er war nicht nur ein wunderbarer Vater, sondern hatte dazu auch noch Jordan in ihr Leben gebracht.
Jordan war Henrys Patenkind. Seine Eltern waren vor Jahren bei einem Unfall ums Leben gekommen. Seitdem lebte er bei seiner Großmutter in Virginia, besuchte Henry aber so oft er konnte. Seit er allerdings zum College ging, sah Devon ihn sehr viel seltener, was seine Besuche nur umso kostbarer machten.
Groß, dunkel und verträumt waren die zutreffendsten Worte, mit denen man Jordan beschreiben könnte. Zu Devon war er ausgesprochen freundlich, neckte sie und brachte sie zum Lachen wie niemand sonst. Er spielte Brettspiele mit ihr, erzählte ihr Witze, und bei seinem letzten Besuch hatte sie ihn sogar im Schach besiegt. Sie wurde eindeutig erwachsen; das hatte seine Bemerkung eben bestätigt. In wenigen Jahren wäre sie eine Frau.
Er wusste es noch nicht, weil es noch einige Zeit hin war, aber eines Tages, wenn sie groß und schön war und ihr Altersunterschied keine Rolle mehr spielte, hatte Devon fest vor, Jordan Montgomery zu heiraten.
Er war die Erfüllung ihrer Träume.
Als Jordan dem jungen Mädchen nachsah, wie es ins Haus lief, ging ihm das Herz über. Die arme Kleine! Man mochte kaum glauben, dass ein sensibles Mädchen wie Devon von solch einem hartherzigen Miststück wie der Frau vor ihm abstammte, die ihn gerade mit ihren Augen verschlang.
»Ich hatte gehofft, dass du vorbeikommst, Jordan«, sagte Henry. »Möchtest du einen Kaffee?«
Jordan blickte zu Henry und sah ihm an, dass er sehr wohl wusste, weshalb Jordan hier war. Nicht um mit ihm Kaffee zu trinken und zu plaudern. Erst recht nicht in Gegenwart von Henrys unerträglicher Frau, die ihn anstarrte wie ein hungriger Piranha.
»Nein danke. Ich wollte mit dir über einen Jagdausflug sprechen, den ich gerade plane.«
Ein wissendes Funkeln blitzte in Henrys Augen auf, während Alise verärgert aufstöhnte. Jordan blieb vollkommen ernst, obwohl er innerlich lachte. Weder Henry noch Jordan interessierten sich für die Jagd. Sie hatten jedoch vor Längerem schon entdeckt, dass dies eines der wenigen Themen war, bei denen Alise nicht mitreden wollte. Sie war überzeugte Vegetarierin und lehnte die Jagd vehement ab. Verblüffend, dass jemand, der aussah, als könnte er seine eigenen Jungen auffressen, tatsächlich etwas gegen das Töten hatte.
Sie betrachtete Jordan noch ein letztes Mal von oben bis unten. »Ihr Männer und eure Gewehre! Da lasse ich euch lieber allein.« Als sie an ihm vorbeiging, strich sie mit einem Finger über seinen Unterarm. »Komm doch noch kurz zu mir in mein Arbeitszimmer, bevor du gehst. Ich würde gern hören, was dein Studium macht.«
Jordan biss die Zähne zusammen und verzichtete darauf, etwas zu erwidern. Sie wusste sehr wohl, dass er um keinen Preis noch mal allein mit ihr in einem Raum sein wollte. Das eine Mal hatte gereicht. Selbst wenn er es schaffte, ihr zu entkommen, ehe sie über ihn herfiel, war er nicht so dumm, ihr überhaupt eine weitere Gelegenheit zu geben. Jordan hatte im Leben noch nie die Hand gegen eine Frau erhoben, aber Alise Stevens war an jenem Tag kurz davor gewesen, sich eine schallende Ohrfeige von ihm einzufangen.
Als er stumm blieb, stieß Alise einen zarten, femininen Seufzer aus und ging ins Haus. »Gehen wir in mein Büro«, sagte Henry, dessen Tonfall keinen Zweifel daran ließ, dass er Alises wenig subtile Avancen sehr wohl bemerkt hatte.
Vor Jahren hatte Henry, der wusste, dass die Wände Ohren hatten, sich ein kleines, schalldichtes Büro ins Haus einbauen lassen. Täglich suchte er den Raum sorgfältig nach Wanzen ab. Manch einer würde Henrys Paranoia seltsam finden; nicht so Jordan. Er hatte längst begriffen, dass sich hinter dem ruhigen, kühlen Auftreten von Henry Stevens ein mächtiger, kluger Mann verbarg, der in viele der geheimsten
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