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Rette mich vor dir

Rette mich vor dir

Titel: Rette mich vor dir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tahereh H. Mafi
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schließe die Augen und versuche mich an eine Welt außerhalb dieser Mauern zu erinnern. Ich denke darüber nach, wie es wohl wäre zu wissen, dass ich träume, dass dieses isolierte Dasein nur in meinem Kopf besteht. Und «, fährt er fort, schließt die Augen, lehnt den Kopf an die Wand, zitiert aus der Erinnerung, » ich denke die ganze Zeit daran. Wie es wohl wäre, mich umzubringen. Weil ich es noch immer nicht weiß, weil ich den Unterschied nicht kenne, weil ich nicht sicher sein kann, ob ich lebe oder nicht. Deshalb sitze ich hier. Sitze hier, tagaus, tagein .«
    Ich bin am Boden angewachsen, erstarrt in meiner eigenen Haut, außerstande, mich zu rühren, denn wenn ich mich bewege, könnte ich erwachen und merken, dass dies wirklich geschieht. Und dann würde ich sterben vor Scham, weil jemand in meine Intimsphäre eingedrungen ist, und ich will weglaufen laufen laufen laufen
    » Lauf weg, sagte ich mir .« Warner liest wieder vor.
    »Bitte«, flehe ich ihn an. »Bitte h-hör auf –«
    Er hebt den Kopf, schaut mich an, als sehe er mich ganz neu, als könne er in mein Inneres blicken, als wolle er, dass ich in sein Inneres blicke, und dann senkt er den Blick, räuspert sich, liest einfach weiter.
    » Lauf weg, sagte ich mir. Lauf, bis deine Lunge versagt, bis der Wind sich in deinen zerfetzten Kleidern verfängt, bis du nur noch ein verschwommener Schatten am Horizont bist.
    Lauf, Juliette, lauf schneller, lauf, bis deine Knochen zerbrechen, bis deine Schienbeine zersplittern, bis deine Muskeln schwinden und dein Herz erstirbt, das immer schon zu groß für deinen Körper war und zu lange zu schnell schlagen musste.
    Lauf lauf lauf, bis du die Schritte hinter dir nicht mehr hören kannst. Lauf, bis sie ihre Schlagstöcke fallen lassen und ihre Schreie in der Luft verhallen. Lauf mit offenen Augen und geschlossenem Mund, und bezwinge den Fluss, der aus deinen Augen strömen will. Lauf, Juliette.
    Lauf, bis du tot umfällst.
    Sorge dafür, dass dein Herz nicht mehr schlägt, bevor sie dich ergreifen. Bevor sie dich berühren.
    Lauf, sagte ich .«
    Ich balle die Fäuste, bis sie schmerzen, beiße die Zähne zusammen, bis sie knirschen, alles alles, nur nicht mehr an diese Erinnerungen rühren. Ich will mich nicht erinnern. Ich will nicht mehr daran denken. Ich will nicht daran denken, was ich geschrieben habe, was Warner nun über mich weiß, was er über mich denkt. Er muss mich für erbärmlich einsam und verzweifelt und weinerlich halten. Ich weiß nicht, wieso mir das überhaupt wichtig ist .
    »Weißt du«, sagt er, klappt das Notizheft zu. Blickt darauf. Lässt die Hand darauf ruhen. Schützend. »Nachdem ich diesen Eintrag gelesen hatte, konnte ich tagelang nicht mehr schlafen. Ich fragte mich, wer dich jagte, vor wem du davonlaufen wolltest. Ich wollte die finden«, sagt er leise, »und ihnen einzeln die Glieder ausreißen. Ich wollte sie ermorden, so grausam, dass sogar du dich erschrecken würdest.«
    Ich zittere jetzt am ganzen Körper. Flüstere: »Bitte, bitte, gib mir das zurück.«
    Er berührt seine Lippen mit den Fingerspitzen. Legt den Kopf in den Nacken. Lächelt, seltsam und unfroh. Sagt: »Du sollst wissen, dass es mir sehr leidtut. Dass ich –«, er schluckt, »dass ich dich so geküsst habe. Ich konnte nicht ahnen, dass du deshalb auf mich schießen würdest.«
    Mir fällt etwas auf. »Dein Arm«, hauche ich verblüfft. Keine Schlinge mehr. Warner bewegt sich mühelos. Nirgendwo Schwellungen oder Narben zu erkennen.
    Er lächelt matt. »Ja. Als ich hier in diesem Raum erwachte, war der Arm geheilt.«
    Tana und Randa. Haben ihm geholfen. Ich frage mich, weshalb Warner hier so gut behandelt wird. Zwinge mich, einen Schritt zurückzutreten. »Bitte«, sage ich erneut. »Mein Notizheft, ich –«
    »Ich versichere dir«, erwidert er, »dass ich dich nicht geküsst hätte, wenn ich nicht das Gefühl gehabt hätte, dass du es wolltest.«
    Ich bin so geschockt über diese Aussage, dass ich mein Notizheft einen Moment lang vergesse. Dass ich es wage, Warner anzusehen. Seinen durchdringenden Blick zu ertragen. Es gelingt mir, meine Stimme ruhig zu halten. »Ich hatte doch gesagt, dass ich dich hasse .«
    »Ja.« Er nickt. »Du wärst erstaunt, wenn du wüsstest, wie oft ich das zu hören bekomme.«
    »Nein, das erstaunt mich eher nicht.«
    Seine Lippen zucken amüsiert. »Du hast versucht mich umzubringen.«
    »Und das findest du komisch?«
    »O ja«, antwortet er, und das Lächeln wird breiter.

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