Rette mich vor dir
sie. »Und rufen Sie uns.«
Ich nicke, ja, sicher, gewiss, und versuche nicht darauf zu achten, dass ich noch nervöser bin als vor der Begegnung mit Warners Vater. Mit Warner allein zu sein, nicht zu wissen, was er tun wird, wozu er fähig ist – ich bin völlig konfus, denn ich weiß nicht einmal, wer er wirklich ist.
Er besteht aus 100 unterschiedlichen Personen.
Er ist der Mann, der mich gezwungen hat, ein unschuldiges Kleinkind zu foltern. Er ist das Kind, das so gepeinigt und verstört war, dass es seinen eigenen Vater im Schlaf umbringen wollte. Er ist der Junge, der einem abtrünnigen Soldaten in den Kopf schießt; der Junge, der zu einem kalten herzlosen Mörder herangezogen wurde. Ich sehe Warner als Kind, das verzweifelt nach der Anerkennung seines Vaters sucht. Ich sehe Warner als Führer eines ganzen Sektors, als Mann, der mich erobern und gegen meinen Willen als Waffe benutzen will. Ich sehe ihn, wie er einen streunenden Hund füttert. Ich sehe ihn, wie er Adam fast zu Tode foltert. Und ich höre, wie er mir sagt, dass er mich liebt, fühle, wie er mich küsst, mit so unerwarteter Leidenschaft, mit solchem Verlangen, dass ich nicht weiß nicht weiß nicht weiß, was mir bevorsteht.
Ich weiß nicht, wer er dieses Mal sein wird. Welche Seite von sich er mir heute präsentiert.
Doch dann denke ich, dass es heute anders sein wird. Denn er befindet sich jetzt in meiner Welt, und ich kann jederzeit um Hilfe rufen, wenn etwas schiefläuft.
Das hoffe ich.
45
Ich gehe hinein.
Die Tür fällt hinter mir zu. Doch den Warner, den ich in diesem Raum vorfinde, erkenne ich kaum wieder. Er sitzt auf dem Boden, an die Wand gelehnt, die Beine ausgestreckt, die Knöchel verschränkt. Trägt nur Strümpfe, ein weißes T-Shirt, eine schwarze Hose. Das Sakko, seine Schuhe, sein elegantes Hemd sind im Zimmer verstreut. Sein Körper ist sehnig und muskulös, und seine blonden Haare sind – wohl zum ersten Mal in seinem Leben – komplett zerzaust.
Er schaut mich nicht an. Rührt sich nicht.
Ich habe mal wieder vergessen, wie man atmet.
Dann
»Hast du eine Ahnung«, sagt er leise, »wie oft ich das hier gelesen habe?« Er hebt die Hand, ohne aufzuschauen. Hält ein kleines abgewetztes Rechteck zwischen 2 Fingern.
Und ich frage mich, wie viele Schläge in die Magengrube man aushalten kann.
Mein Notizheft.
Er hat mein Notizheft in der Hand.
Natürlich.
Ich kann nicht fassen, dass ich das vergessen habe. Mein Notizheft war zuletzt bei ihm. Er hatte es mir abgenommen, als er es in der versteckten Tasche meines Kleides fand. Kurz vor der Flucht, kurz bevor Adam und ich aus dem Fenster kletterten und wegliefen. Kurz bevor Warner merkte, dass er mich berühren kann.
Und jetzt – kennt er meine düstersten Gedanken, meine intimsten Geständnisse, alles, was ich in völliger Isolation geschrieben habe, in dem Glauben, dass ich in dieser Zelle zu Grunde gehen und niemals jemand diese Aufzeichnungen lesen würde – er hat sie gelesen, all diese verzweifelt geflüsterten Botschaften aus den geheimsten Winkeln meines Geistes.
Ich fühle mich unerträglich entblößt.
Gelähmt.
Verletzlich.
Er schlägt das Notizheft irgendwo auf. Überfliegt die Seite. Sieht mich an, und seine Augen sind klarer, heller, leuchten in einem noch schöneren Grün als je zuvor, und mein Herz schlägt so schnell, dass ich es nicht mehr spüren kann.
Er beginnt vorzulesen.
»Nein –«, keuche ich entsetzt, aber es ist zu spät.
» Ich sitze hier jeden Tag «, fängt er an. » Seit 175 Tagen. An einigen Tagen stehe ich auf und strecke mich, spüre die steifen Knochen, die knirschenden Gelenke, die zermalmte Seele. Ich dehne die Schultern, blinzle, zähle die Sekunden, die an den Wänden hinaufkriechen, die Minuten, die unter meiner Haut zittern, die Atemzüge, die ich nicht vergessen darf. Manchmal erlaube ich mir, den Mund ein wenig zu öffnen; ich streiche mit der Zunge über die Rückseite meiner Zähne, über den Rand meiner Lippen, und ich gehe in diesem kleinen Raum umher, betaste die Risse in den Wänden und überlege, überlege, wie es wohl wäre, laut zu sprechen und gehört zu werden. Ich halte die Luft an, horche, horche nach Lebenszeichen und denke an die Schönheit, die niemals mögliche Möglichkeit, einen anderen Menschen neben mir atmen zu hören.«
Warner hat die Hand zur Faust geballt, presst den Handrücken einen Moment lang an den Mund, bevor er weiterliest.
» Ich halte inne. Ich bleibe still stehen. Ich
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