Rette mich vor dir
»Absolut faszinierend.« Er hält inne. »Möchtest du wissen, weshalb?«
Ich starre ihn wortlos an.
»Weil du immer zu mir gesagt hast, dass du niemanden verletzen wolltest. Dass du niemanden töten wolltest.«
»Das stimmt auch.«
»Aber mich wolltest du töten?«
Ich besitze keine Buchstaben mehr. Mir sind die Worte ausgegangen. Jemand hat mir meinen Wortschatz geraubt.
»Diese Entscheidung fiel dir leicht«, sagt er. »Du hattest eine Pistole. Du wolltest weglaufen. Du hast geschossen. Das war’s.«
Ich bin eine Heuchlerin. Er hat Recht.
Ich versuche mir einzureden, dass ich niemanden töten will, aber irgendwie rechtfertige ich das Töten vor mir selbst, lege mir Gründe dafür zurecht.
Warner. Castle. Anderson.
Sie alle wollte ich umbringen. Und ich hätte es auch getan.
Was geschieht mit mir ?
Es war ein furchtbarer Fehler hierherzukommen. Diesen Auftrag anzunehmen. Ich kann nicht mit Warner allein sein. Nicht so. Wenn ich mit ihm allein bin, schmerzt etwas in mir. Auf eine Art, die ich nicht verstehen will.
Ich muss weg hier.
»Geh nicht«, flüstert er, den Blick wieder auf mein Notizheft gerichtet. »Bitte. Setz dich zu mir. Bleib bei mir. Ich möchte dich nur sehen. Du musst nicht mal sprechen.«
Irgendein irrer, verworrener Teil meines Hirns verlangt tatsächlich, dass ich mich zu ihm setze, ihn anhöre, doch dann muss ich an Adam denken, was würde er sagen, wenn er das wüsste, wenn er hier wäre und sehen könnte, dass ich mit dem Mann Zeit verbringen will, der ihn ins Bein geschossen, ihm die Rippen gebrochen und ihn in einem verlassenen Schlachthaus aufgehängt hat, wo er langsam verbluten sollte.
Ich muss wahnsinnig sein.
Dennoch rühre ich mich nicht von der Stelle.
Warner lehnt sich entspannt an die Wand. »Möchtest du, dass ich weiter vorlese?«
Ich schüttle den Kopf, kann nicht damit aufhören, flüstere: »Warum tust du das?«
Er sieht aus, als wolle er antworten, doch dann überlegt er es sich anders. Schaut beiseite. Blickt zur Decke hinauf und lächelt ein wenig. »Weißt du«, sagt er, »ich wusste es vom ersten Tag an, als ich dir begegnet bin. Etwas fühlte sich ganz besonders an. Der Ausdruck in deinen Augen. So zart. Und verletzlich. Als hättest du nicht gelernt, dein Herz vor der Welt zu verbergen.« Er nickt, nickt mehrmals, und ich weiß nicht, warum. »Das hier zu finden«, sagt er, und seine Stimme klingt sanft, als er mein Notizheft berührt, »war so –«, er runzelt die Stirn, verwirrt und verwundert, »so extrem schmerzhaft.« Er schaut mich an. Sieht dabei aus wie ein ganz anderer Mensch. Als müsse er etwas Bitteres schlucken. Oder eine enorm schwierige Gleichung lösen. »Es fühlte sich an, als würde ich zum ersten Mal in meinem Leben einer verwandten Seele begegnen.«
Warum zittern meine Hände so sehr .
Er holt tief Luft. Senkt den Blick. Flüstert: »Ich bin so müde, Süße. So wahnsinnig müde.«
Warum rast mein Herz so sehr .
»Wie viel Zeit bleibt mir«, fragt er, »bis sie mich töten?«
»Töten?«
Er starrt mich an.
»Wir werden dich nicht töten«, sage ich. »Wir haben nicht die Absicht, dir etwas anzutun. Wir wollen dich nur benutzen, um unsere Leute zurückzuholen. Du bist unsere Geisel.«
Warners Augen werden groß, und er richtet sich auf. »Was?«
»Wir haben keinen Grund, dich zu töten«, erkläre ich. »Wir wollen dich nur austauschen –«
Warner lacht aus vollem Hals. Schüttelt den Kopf. Lächelt mich auf eine Art an, die ich nur einmal zuvor gesehen habe. Als sei ich das Entzückendste unter der Sonne.
Diese Grübchen .
»Liebes, süßes, wunderhübsches Mädchen«, sagt er. »Deine Leute überschätzen die Zuneigung meines Vaters zu mir gewaltig. Ich bedaure, dir das mitteilen zu müssen. Aber mein Hiersein verschafft euch nicht den Vorteil, auf den ihr gehofft habt. Ich bezweifle, dass mein Vater meine Abwesenheit überhaupt bemerken wird. Ich möchte euch deshalb ersuchen, mich entweder zu töten oder freizulassen. Aber bittet verschwendet nicht meine Zeit, indem ihr mich hier gefangen haltet.«
Ich suche verzweifelt nach greifbaren Wörtern und Sätzen, kann aber keine finden, nicht einmal ein Adverb, nicht einmal eine Präposition oder ein einsames Partizip, denn auf eine so absonderliche Bitte gibt es keine Antwort.
Warner grinst mich immer noch an, sichtlich amüsiert.
»Aber das ist doch kein Argument«, sage ich schließlich. »Niemand wird gerne als Geisel gehalten –«
Er holt Luft. Streicht sich
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