Rettungskreuzer Ikarus Band 005 - Requiem
Augenblicke
ein Erwachen möglich machten. In diesen plötzlichen Momenten eines
Scheinbewusstseins erkannte das Kollektive Ich nicht nur, dass der Zeitpunkt
der endgültigen Auslöschung immer näher rückte, sondern
auch, dass die Kraft, darüber Kummer oder Verzweiflung zu empfinden, nicht
mehr vorhanden war. Die kurzen, klaren Momente wurden immer mehr von einem Schleier
der Gleichgültigkeit und des ergebenen Fatalismus überzogen, und so
unbeweglich wie das Artefakt lagen auch die wenigen Gedanken da, die in der
Phase der Scheinexistenz noch gedacht werden konnten, ehe die Energie aufgebraucht
war.
Dunkel erinnerte sich das kollektive Ich an die Zeiten, während derer
Energie kein Problem gewesen war: Das Raumschiff war schnell und kraftvoll gewesen,
wie alle anderen auch, und seine Bewohner hatten es zusammen mit dem Kollektiven
Ich virtuos beherrscht und für ihre Zwecke eingesetzt. Welche Zwecke das
genau gewesen waren, daran fehlte die Erinnerung zumeist, doch hin und wieder
drangen Bilder von Zerstörung und Kampf an das Scheinbewusstsein, und tief
in seinem Inneren spürte das Kollektive Ich, dass es daran beteiligt gewesen
sein musste.
Das kümmerte es wenig, denn Moral gehörte nicht zu den Kategorien
seines Denkens.
Woran es sich immer wieder gut erinnern konnte, das war die kraftvolle
Art, wie sich das Schiff durch den Weltraum bewegt hatte, schneller und entschlossener
als alles andere, auf das es selbst je getroffen war. Das Kollektive Ich schmeckte
die entfernten Reste von Plasma, durch die das Fahrzeug gestoßen war,
roch die feinen Spuren von Protomaterie, die an ihm gehaftet hatten. Photonen
hatten das Kollektive Ich umspielt, und die Quellen waren so viele verschiedene
gewesen, dass es kaum möglich war, sich an alle zu erinnern, und es gab
sicher nur wenige Plätze im Universum, an dem es nicht schon gewesen war
– zumindest bildete es sich das ein.
In den wenigen lichten Momenten der Scheinexistenz war das Kollektive Ich
auf die Reste der Zentralmatrix zurückgeworfen. Es war blind, taub und
konnte sich niemandem mitteilen, denn die Beherrscher des Artefakts waren mit
ihm gestorben, damals, vor etwa 500 Jahren, als der Absturz auf dieser fremden
Welt stattgefunden hatte. Die Zeit war etwas Fiktives für das Kollektive
Ich, nur eine Maßeinheit, aber nie etwas gewesen, das für seine Existenz
wichtig wäre, denn es galt als unsterblich. Vielleicht war es das langsam
wachsende Verständnis der eigenen Sterblichkeit, das dem Siechtum noch
mehr Kraft gegeben hatte. Es musste etwas mit Aufgabe oder Resignation zu tun
gehabt haben. Als die Beherrscher verstorben waren, hatte das Kollektive Ich
vergeblich versucht, das Raumschiff wiederherzustellen. Die Speicher waren damals
noch gefüllt gewesen – es erinnerte sich an den Geschmack der kraftvollen
Energie, die es zu jener Zeit durchpulst hatte –, doch die Prozessoren
hatten nichts nachliefern können, da sie zusammen mit den Beherrschern
vergangen waren. Das Kollektive Ich war gestrandet und hatte versucht, sich
auf der neuen Welt einzurichten. Es hatte Ordnung geschaffen. Vielleicht hatte
es zu viel Energie darauf verschwendet – doch Untätigkeit widersprach
seinem Wesen. Die Ordnung war in gewisser Hinsicht sein Vermächtnis und
vielleicht würde eines Tages dies jemand zu würdigen wissen, vorausgesetzt,
die Ordnung wurde erkannt und nicht als naturgegeben vorausgesetzt.
Aber was war schon Natur?
Das Kollektive Ich, vor Mikrosekunden in die Scheinexistenz erwacht, spürte
bereits, wie die geringe, gespeicherte Energie versiegte und die erneute Stasis
ankündigte. Ein Gefühl von Angst kroch in das Scheinbewusstsein des
Kollektiven Ichs, denn ein Selbsterhaltungsgefühl kannte es sehr wohl,
und ob es jemals erneut erwachen würde, erschien zunehmend unwahrscheinlich.
Die Erkenntnis eigener Endlichkeit – darauf war es nie vorbereitet worden,
und es fühlte sich durch sie sowohl geläutert wie bedroht. Das Gefühl,
selbst Endlichkeit über mannigfaltige Existenz gebracht zu haben, lauerte
weiter im Hintergrund, doch drang es nicht an die Oberfläche der Selbsterkenntnis,
und ehe es sich weitere Gedanken darüber machen konnte, versiegte der spärliche
Fluss der Energie, die Teile beendeten ihre kaum messbare, atomare Eigenbewegung
und die bleierne Leere der Stasis umfing das kaum erwachte Scheinbewusstsein
mit seiner nichts
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