Richard Lukastik Bd. 2 - Mariaschwarz
von dem flachen Hügel aus sah es ganz nett aus, dort, wo ein kleiner, vom Wind und vom Salz zernagter Holztisch stand, auf dem Vinzent Olander allmorgendlich seine Gedichte schrieb.
Fünfzig Meter dahinter zog sich die Reihe aus zweistöckigen, nahtlos aneinandergefügten Sozialbauten dahin. Die Fassade war einmal gelb gewesen, doch für die Farbe, die sie jetzt besaß, gab es noch keinen Namen. In dieser Gegend gab es für eine Menge Dinge keinen Namen. Und daran würde auch ein kleiner Poet nichts ändern. Wollte Olander auch gar nicht. Er fühlte sich wohl hier. Er mochte das kleine Dorf, das hinter den Wohnbauten in einer Grube versank, sodaß, wenn er sich von seinem Dichtertisch aus umwandte, er bloß die Spitze des Kirchturms sah. Ein ausgesprochen schwarzer Kirchturm einer ausgesprochen schwarzen Kirche, welche – ein episodischer Zufall– den Namen St. Maria trug. Sonst aber erinnerte nichts an Hiltroff.
Ja, das war ein gutes Gedicht. Olander schrieb nach eigener Einschätzung sehr viel mehr gute als schlechte Gedichte. Eine Bewertung, die nicht gerade als ein Zeichen ausgeprägter Selbstkritik gelten konnte. Aber was brauchte er hier draußen Selbstkritik? Da war es doch besser, den Tag einigermaßen zufrieden zu beginnen. Er würde seine Gedichte ja ohnedies nie veröffentlichen wollen. Das Öffentliche machte alles erst so schlimm. Aus dem Öffentlichen ergab sich das Häßliche und Peinliche. Nein, das wollte er sich nicht antun. Selbst dann nicht, wenn jemand ihm einen gewissen Erfolg hätte garantieren können. Man darf sein Glück nicht verscherbeln. Das wußte er. Es war wie mit den Atomen. Sie wuchsen nicht nach. Auch Glück wuchs nicht nach. Wer zuviel davon verbrauchte, war ein Schmarotzer. Olander wollte kein Schmarotzer sein.
Er schob das Papier in eine dunkelbraune Ledermappe, klemmte sie sich unter den Arm und ging zurück zu der farbnamenlosen Häuserreihe. Von einer der Wäscheleinen zog er ein gestreiftes Seidenhemd, das er sich um die Schulter legte, und trat sodann durch eine vom Rost pickelige Eisentüre in ein schmales Treppenhaus. Er stieg die wenigen Stufen nach oben und begab sich in die unversperrte Wohnung.
»Hallo, Vinzent«, sagte die Frau, die an der Spüle stand und Kaffeepulver in einen Filter löffelte. Sie trug ein geblümtes Sommerkleid, Rosen im Verblassen. Die Frau selbst jedoch hatte gar nichts Verblaßtes an sich, auch wenn sie stark abgenommen hatte. Aber es schien ihr gelungen zu sein, ihr Gewicht genau an den richtigen Stellen zu verlieren. In jeder Hinsicht.
»Morgen, Dora, mein Schatz«, grüßte Olander und küßte die Frau auf die Wange. Kurz spürte er ihre Hüfte. Kurz roch er ihre Haut. Kurz sah er einen winzigen Streifen Sonne auf ihrer Schläfe. Es gab selten Sonne an diesem Ort. Aber wenn, dann war es immer etwas Besonderes, als würde jemand Sonnenlicht in kleinen Quadraten und Pünktchen und aufklebergroßen Flecken verteilen. Wie diese vereinzelten Regentropfen, bei denen man sich denkt, die stammen noch aus dem Gewitter von letzter Woche.
Ja, er nannte sie Dora, auch wenn der Name Irene sie ebensowenig gestört hätte. Wie gesagt, an diesem Ort hatte man es nicht so mit den Namen.
Olander setzte sich auf die einfache, kleine Sitzecke. Alles in dieser Wohnung war ziemlich einfach und klein. Und auch ein wenig geschmacklos. Der Telefonapparat trug eine Art gestricktes Mäntelchen, wie kleine Hunde, wenn es draußen kalt ist. Man kann sich den Rest also vorstellen. Aber es hatte seine Ordnung. Es gab hier nichts zu verändern.
Olander sah nach draußen, gleichzeitig griff er nach einer der Plastikfiguren, die auf dem Fensterbrett standen, und rückte sie um eine Winzigkeit zurecht. Nicht, weil sie wirklich verstellt worden war. Es handelte sich bloß um eine Geste der Sorgsamkeit. Die Figuren standen exakt dort, wo sie stehen mußten, gleich gasdicht verschlossenen Brennstäben. Dies hier war ein Reaktorkern, welcher Glück produzierte. Zumindest war das Olanders Überzeugung (und es muß immerhin festgestellt werden, daß die ökonomischen und juristischen Probleme der Gruppo Colanino mit dem Verlust der gesamten Sammlung nicht gerade geringer geworden waren. Colanino geriet in Gefahr, eine Democrazia Christiana der italienischen Wirtschaft zu werden und letztendlich in der Versenkung und in den Geschichtsbüchern zu verschwinden).
Die Türe zum Kinderzimmer öffnete sich. Clara kam in die Küche. Sie sah verkatert aus. Alle Zwölfjährigen
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