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Richard Wagner - Werk, Leben, Zeit

Richard Wagner - Werk, Leben, Zeit

Titel: Richard Wagner - Werk, Leben, Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Borchmeyer
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fesselt« (GS IX, 182), ja an der ihm, wie er in seinem Essay Über Schauspieler und Sänger berichtet, »seit undenklichen Zeiten der Geist des Theaters zuerst wieder lebendig« aufging. »Hier war der Improvisator Dichter, Theaterdirektor und Acteur zugleich« (GS IX, 182). Kennzeichen des Kasperltheaters und jedes echten Volkstheaters, das von der mimischen Improvisationskunst bestimmt bleibt, ist das Fehlen einer scheidenden Grenze zwischen Bühne und Publikum.
    Auch das Theater Shakespeares, das sich nach Wagners Überzeugung aus der vorliterarischen mimischen Volkskultur entwickelt hat, kennt diese Grenze noch nicht. Ihrem populär-improvisatorischen Ursprung entsprechend sei die Shakespeare-Bühne »von allen Seiten vom Zuschauer umgeben […], während nach dem Vorgange der Italiener und Franzosen die moderne Bühne die Schauspieler immer nur von einer, und zwar von der Vorderseite, wie die Theatercoulissen, zeigt. Hier sehen wir das, mit Misverstand der antiken Bühne nachgebildete, akademische Theater der Kunstrenaissance, in welchem die Scene durch das Orchester vom Publikum geschieden wird.« (GS IX, 192) Was für das Musiktheater gefordert wird – der »mystische Abgrund« des Bayreuther Festspielhauses (GS IX, 337) –, ist für Wagner auf der Sprechbühne also merkwürdigerweise eine Fehlentwicklung.
    Wagner sucht die »primitive Volksbühne Shakespeare’s, welche alles täuschenden Blendwerkes der Dekoration entbehrte« und auf der die vermeintlich »spärlich verkleideten« Darsteller sich »nach jeder Richtung hin voll und ganz, wie im gemeinen Leben, vor dem Zuschauer« bewegten (GS IX, 192), in zeitgemäßer Form wiederherzustellen. Seine Ideen kreisen immer wieder um Goethes Faust , zu dem der Dichter ja zuerst durch ein Puppentheater angeregt worden sei. Für die angemessene szenische Darstellung zumal des zweiten Teils sei eine »fundamentale Umwandlung« der Bühne notwendig, welche die »moderne Ausbildung aller mechanischen Künste« mit den »einfachen architektonischen Gegebenheiten des Shakespeare’schen Theaters« verbindet (GS IX, 194 f.). In den Gesprächen mit Cosima, vor allem am 7. November 1872, entwickelt Wagner gar die Idee eines eigenen »Faust-Theaters« – eines zirkusartigen Rundbaus, in dem Bühnen- und Zuschauerrealität sich gänzlich vermischen, sich einzelne Szenen »hinter dem Zuschauer« abspielen (»das Umdrehen des Publikums belebte den Vorgang, sie wären Teilnehmende«; CT I, 592 f.). Hier nimmt er unbestreitbar Bühnenentwicklungen des 20. Jahrhunderts vorweg. Über die hier referierten Ideen hinaus entwickelt Wagner in diesem Traktat eine neuartige Psychologie und Theorie der Schauspielkunst, die Nietzsche in seinem Brief an Erwin Rohde vom 25. Oktober 1872 urteilen lassen, sie würden »ein ganz neu entdecktes Bereich der Aesthetik« erö ff nen. (SBr IV, 72)
    Wagners späte ästhetische Schriften aus der Tribschener und Bayreuther Zeit stehen bis heute im Schatten seiner Züricher Kunstschriften – durchaus zu Unrecht, da sie im Unterschied zu den utopischen Perspektiven der Reformschriften in vielerlei Hinsicht nicht überholt sind, zeichnen sie sich doch oft durch eine Konkretheit und Detailgenauigkeit aus, die jenen Schriften in ihrem spekulativen Höhen fl ug fehlen. Bezeichnenderweise enthalten die späten Essays immer wieder Notenbeispiele, die in den Züricher Schriften undenkbar gewesen wären. Die musikalischen und aufführungspraktischen Analysen in den Traktaten Über das Dirigiren oder Zum Vortrag der neunten Symphonie Beethoven’s (1873) haben nicht nur die moderne Aufführungs-, zumal Dirigierpraxis immer wieder inspiriert, sondern bilden auch wichtige Referenztexte z. B. in Theodor W. Adornos nachgelassener Theorie der musikalischen Reproduktion .
    Von besonderem Rang sind neben dem Aufsatz Das Publikum in Raum und Zeit (1878) – der um das Problem der historischen Gebundenheit auch der größten, über ihre Zeit weit hinauswirkenden Erscheinungen der Kulturgeschichte, »die Tragik […] der Unterworfenheit jeder individuellen Erscheinung unter die Bedingungen von Raum und Zeit« (GS X, 92) kreist – die drei Essays aus dem Jahre 1879, welche konkret zu praktisch-dramaturgischen Fragen Stellung nehmen: Über das Dichten und Komponiren und Über das Opern-Dichten und Komponiren im Besonderen – mit detaillierten Ausführungen über das Problem der Phrasierung, des Verhältnisses zwischen musikalischem und Sprach-Akzent – sowie Über die

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