Richard Wagner - Werk, Leben, Zeit
Rohdes polemisch-philologische Antwort auf Wilamowitz mit dem Titel Afterphilologie. Im nächsten Semester bleiben zum Entsetzen und zur Empörung Wagners und Cosimas in Nietzsches Kolleg nahezu sämtliche Studenten aus. Als Nietzsche sich sieben Jahre später aufgrund seines Gesundheitszustandes für immer aus der Universität zurückzieht, nimmt Wilamowitz mit philiströser Selbstgefälligkeit zur Kenntnis, dass Nietzsche seinem Appell von 1872, er solle von einem Lehrstuhl heruntersteigen, auf dem er nichts mehr zu suchen habe, nun endlich gefolgt sei (wie er später in seinen Erinnerungen zugegeben hat). Die Verfemung Nietzsches vonseiten der Zunftphilologie bringt ihn Wagner persönlich noch näher. Dieser identi fi ziert sich so stark mit der Geburt der Tragödie , dass er einmal – hellsichtig genug – Nietzsche prophezeit, es werde die Zeit kommen, »in welcher ich Ihr Buch gegen Sie zu vertheidigen haben werde. – Ich habe wieder darin gelesen, und schwöre Ihnen zu Gott zu, dass ich Sie für den Einzigen halte, der weiss, was ich will!« (21. September 1873; NW 230)
Von den deprimierenden Folgen der Geburt der Tragödie bleibt das Tribschener Idyll noch ungetrübt. Denn in der letzten Aprilwoche 1872 räumen Wagners die Villa und verlegen ihren Wohnsitz nach Bayreuth. Nietzsche macht seinen letzten Besuch in Tribschen. »Vorigen Sonnabend war trauriger und tiefbewegter Abschied von Tribschen«, schreibt er am 31. April an Gersdor ff : »Tribschen hat nun aufgehört: wie unter lauter Trümmern gingen wir herum, die Rührung lag überall, in der Luft, in den Wolken, der Hund fraß nicht, die Dienerfamilie war, wenn man mit ihr redete, in beständigem Schluchzen. Wir packten die Manuskripte, Briefe und Bücher zusammen – ach es war so trostlos! Diese drei Jahre, die ich in der Nähe von Tribschen verbrachte, in denen ich 23 Besuche dort gemacht habe – was bedeuten sie für mich! Fehlten sie mir, was wäre ich!« (NW 365) Cosima Wagner erinnert sich nach Nietzsches Tod in einem Brief an den Dirigenten Arthur Seidl vom 14. November 1900: »Der Eindruck, den er in Tribschen erhielt, war zu gewaltig für seine physische Konstitution. Ich habe gleich ein Gefühl der Angst um ihn gehabt […] Als wir im Jahre 1872 Tribschen verließen, war er so heftig davon bewegt, daß er mir sagte: Sie werden sehen, es endet schlecht mit mir.«
Nietzsche hat die Tribschener Jahre – trotz aller Entfremdung, ja Feindseligkeit zwischen ihm und Wagner in den späteren Jahren ihrer Beziehung bzw. Unbeziehung – bis zuletzt als die glücklichste Zeit seines Lebens gepriesen. In der Vita, die er am 10. April 1888 für den dänischen Kultur- und Literarhistoriker Georg Brandes verfasst hat, bemerkt er, »daß ich von Anfang meiner Basler Existenz an in eine unbeschreiblich nahe Intimität mit Richard und Cosima Wagner gerieth, die damals auf ihrem Landgute Tribschen bei Luzern wie auf einer Insel und wie abgelöst von allen früheren Beziehungen lebten. Wir haben einige Jahre alles Große und Kleine gemeinsam gehabt, es gab ein Vertrauen ohne Grenzen.« (NW 969 f.) Noch kurz vor seinem paralytischen Zusammenbruch wird er in Ecce homo schreiben: »Hier, wo ich von den Erholungen meines Lebens rede, habe ich ein Wort nöthig, um meine Dankbarkeit für das auszudrücken, was mich in ihm bei weitem am Tiefsten und Herzlichsten erholt hat. Dies ist ohne allen Zweifel der intimere Verkehr mit Richard Wagner gewesen. Ich lasse den Rest meiner menschlichen Beziehungen billig; ich möchte um keinen Preis die Tage von Tribschen aus meinem Leben weggeben, Tage des Vertrauens, der Heiterkeit, der sublimen Zufälle – der tiefen Augenblicke … Ich weiss nicht, was Andre mit Wagner erlebt haben: über unsern Himmel ist nie eine Wolke hinweggegangen.« (NW 110)
Späte Ästhetik
In Tribschen hat Wagner, wie bereits angedeutet, auch einige seiner bedeutendsten theoretischen Schriften verfasst. Neben den schon erörterten weltanschaulich-kulturpädagogischen Traktaten und den im Umkreis der (ja nur als Privatpublikation gedachten) Autobiographie entstandenen Erinnerungs-Essays über Rossini, Auber und Schnorr von Carolsfeld sind es zumal der bereits im Zusammenhang mit Wagners Dresdener Kapellmeistertätigkeit gewürdigte Aufsatz Über das Dirigiren , der mit seiner Grundansicht, das Tempo aus Melos und Harmonik abzuleiten und jeweils zu modi fi zieren, den Weg zur modernen Agogik bereitet hat, sowie die Essays Beethoven (1870) und Über
Weitere Kostenlose Bücher