Richard Wagner - Werk, Leben, Zeit
Einöde, fern von dem Qualm und dem Industrie-pestgeruche unsrer städtischen Civilisation« (SB IV, 270). Dieser Ort scheint für ihn nun »das kleine, abgelegene, unbeachtete Bayreuth« zu sein (GS IX, 331), das doch mit Jean Paul einen der größten deutschen Dichter ›sein‹ nennen konnte (GS IX, 333). Wagners Idee eines provisorischen, vom kommerziellen Kulturbetrieb der Großstadt abgelegenen Theaters bestimmte seine Festspielprojekte von jeher. Das ihm vom König aufgedrängte Sempersche Projekt eines Monumentaltheaters in München war nur eine Unterbrechung dieser Gedankenlinie.
Die Pläne des Bayreuther Festspielhauses wurden von Carl Brandt und dem Leipziger Architekten Otto Brückwald unter Anlehnung an Sempers Festspielhaus-Ideen ausgearbeitet. Auch sie halten nach Wagners Worten an der demokratischen »Anordnung des antiken Amphitheaters« fest. Das bedeutet (zum ersten Mal seit der Renaissance) eine Absage an das »System unserer Logenränge«. Freilich erlaubt die Guckkastenbühne, »die in ihrer vollen Tiefe benutzte Scene«, keine echte Kreisform des Zuschauerraums, sondern nur die Keil- oder Kreissegmentform mit steil ansteigenden Sitzreihen, die jedem Zuschauer die gleiche Sicht gewähren sollen (GS IX, 336 f.). Die durch den »mystischen Abgrund« (GS IX, 337), den unsichtbaren Orchestergraben vom Zuschauerraum getrennte Szene wird in die »Unnahbarkeit einer Traumerscheinung« entrückt, die den Zuschauer in den »begeisterten Zustand des Hellsehens« versetzt (GS IX, 338). Wagner setzt hier (in der Schrift Das Bühnenfestspielhaus zu Bayreuth ) die in Beethoven entwickelte – durch Schopenhauers Versuch über das Geistersehn : seine »tiefsinnige Hypothese im Betre ff des physiologischen Phänomens des Hellsehens und seine hierauf gegründete Traumtheorie« (GS IX, 68) inspirierte – Argumentation fort, welche die Bühne als ein durch die Musik und ihr Vermögen der »Depotenzirung des Gesichts« (d. h. Sehvermögens; GS IX, 110) erzeugtes Traumbild deutet. Eine Idee, welche die Theaterästhetik der Jahrhundertwende – zumal vermittelt durch Nietzsches Geburt der Tragödie , die sich jene vollkommen zu eigen macht – entscheidend prägen wird, wie etwa Hofmannsthals Essay Die Bühne als Traumbild (1903) bezeugt.
Abb. 28 : Das Bayreuther Festspielhaus im Längsschnitt
Angesichts der »Neutralisation des Sehens« durch die Musik (GS IX, 336) und um des ungestörten ›Hellsehens‹ der Bühne willen muss aber nach Wagners langjähriger Überzeugung – in der er durch seine Schopenhauer-Lektüre bestärkt worden ist – das Orchester verdeckt werden. Die »Unsichtbarmachung des Orchesters«, des »technischen Herdes der Musik« (GS IX, 336), ist nicht nur eine alte Idee Wagners – Semper hätte sie ebenso in München verwirklicht –, sondern sie fi ndet sich auch schon in Goethes Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre , der zur ständigen Lektüre Wagners gehört. Es ist Natalies Oheim, der Wagners Forderung vorwegnimmt. »Die wahre Musik ist allein fürs Ohr«; aus diesem Grunde solle man »bei Instrumentalmusiken die Orchester so viel als möglich versteckt haben, weil man durch die mechanischen Bemühungen und durch die notdürftigen, immer seltsamen Gebärden der Instrumentenspieler so sehr zerstreut und verwirrt werde« (Buch VIII, Kap. 5). In fast wörtlicher Übereinstimmung mit dieser Bemerkung redet Wagner schon in seiner Festschrift Beethoven von 1870 über die »mechanischen Bewegungen« der Musiker, den »ganz sonderbar sich bewegenden Hilfsapparat einer orchestralen Produktion« (GS IX, 75), den er den Blicken des Zuhörers in seinem Theater entziehen möchte. Darauf bezieht er sich ausdrücklich in seiner Schrift über das Bayreuther Bühnenfestspielhaus. Dieses will nichts als ein Zweckbau sein, »äußerlich kunstlos« (GS IX, 341), »von der naivsten Einfachheit eines Nothbaues«; »keine der überkommenen Ornamente« sollen verwendet werden (GS IX, 343). Fast erscheint Wagner hier als Prophet der modernen funktionalen Architektur und der Perhorreszierung des Ornaments als »Verbrechen« (Adolf Loos). Die Neutralisation des Sehens soll sich mithin auch auf die Theaterarchitektur übertragen. Und gerade dadurch, durch den Verzicht auf eine notwendig historisierende »Ornamentik« und die »Zierrathen« des Theaterbaus seit der Renaissance könne »die Architektur durch den Geist der Musik […] zu einer neuen Bedeutung geführt werden«, so dass »der Mythos des Städtebaues
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