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Richard Wagner - Werk, Leben, Zeit

Richard Wagner - Werk, Leben, Zeit

Titel: Richard Wagner - Werk, Leben, Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Borchmeyer
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Unterscheidung schließt sich Nietzsches Polarität des Apollinischen [Schönen] und Dionysischen [Erhabenen] an.) Die Überwindung der Kategorie des Schönen in der Musikästhetik impliziert Wagners Verwerfung des »Formalismus« der traditionellen Satztechnik mit ihrem geradtaktigen »architektonischen Periodengerüste« (GS IX, 84), in der sich für ihn die Überfremdung der Musik durch von der bildenden Kunst abgeleitete Strukturen manifestiert.
    Nietzsche ist ihm hier in der Geburt der Tragödie gefolgt, die von Wagners Beethoven bis ins Detail beein fl usst ist. (Die – apollinische – Szene ist auch für ihn die traumartige Projektion des – dionysischen – Chors als des musikalischen Urorgans der Tragödie.) Die Geburt der Tragödie ist weniger Schopenhauer selber als dessen Revision durch Wagner verp fl ichtet, welche darauf zielt, den philosophischen Apologeten der absoluten Musik zum Gewährsmann des musikalischen Dramas zu machen. Schopenhauer selbst hat indessen stets daran festgehalten, dass die Musik auch in der Oper eine von deren Handlungen und Personen absolut unabhängige, mit denselben nur indirekt zu vermittelnde Existenz für sich habe, da sie eben »nie die Erscheinung, sondern allein […] das An-sich aller Erscheinung, den Willen selbst« ausdrücke. Sogar die Musik Rossinis spreche »so deutlich und rein ihre eigene Sprache, daß sie der Worte gar nicht bedarf und daher auch mit bloßen Instrumenten ausgeführt ihre volle Wirkung tut« ( Die Welt als Wille und Vorstellung III, § 52).
    Wagners Aufsatz Über die Bestimmung der Oper (sein Vortrag vor der Berliner Akademie der Künste am 28. April 1871) kehrt nach dem metaphysischen Höhen fl ug der Beethoven-Festschrift auf den Erdboden der Dramaturgie zurück. Zwar gibt er sich als kommentierende Ergänzung zu Oper und Drama aus, doch sind die Gegensätze zu Wagners theoretischem Hauptwerk o ff enkundig. Übrigens ist dieser Traktat schon – vor dem Erscheinen der Geburt der Tragödie – von Nietzsches Theorie des Apollinischen und Dionysischen geprägt, auf die Wagner sich ohne Nennung von Nietzsches Namen wörtlich bezieht (GS IX, 137 f.). Nach einer eingehenden Auseinandersetzung mit den auf die Oper zielenden formästhetischen Überlegungen Goethes und Schillers entfaltet Wagner eine Theorie, zu der es noch keine Ansätze in den Reformschriften nach 1848, wohl aber in der Poetik der Meistersinger gibt. Das »Naturverfahren bei den Anfängen aller Kunst« sei die Improvisation, und alle großen Erscheinungsformen des Theaters seien aus einer Verbindung der »höheren Besonnenheit des Dichters« mit dem »improvisatorischen Geist des Mimen« zu erklären (GS IX, 142). Zumal das Shakespearesche Drama sei »als eine fi xirte mimische Improvisation von allerhöchstem dichterischem Werthe« zu betrachten (GS IX, 143).
    Da Wagner aber auch die Instrumentalmusik vor allem des späten Beethoven von den Strukturgesetzen der Improvisation her begründet, kann er die in der Beethoven-Festschrift metaphysisch abgeleitete »Urverwandtschaft« zwischen Beethoven und Shakespeare (GS IX, 148) nun formtypisch begründen. Aufgrund der Strukturverwandtschaft der Beethovenschen Instrumentalmusik mit der Dramatik Shakespeares de fi niert er das Kunstwerk der Zukunft, wie bereits im Zusammenhang mit den Meistersingern zitiert, als »durch die höchste künstlerische Besonnenheit fi xirte mimisch-musikalische Improvisation von vollendetem dichterischem Werthe« (GS IX, 149 f.). Die Neuheit dieses Kunstwerks (das an Novalis’ Idee der »absichtlichen Zufallsproduktion« gemahnt), die »erhabene [!] Unregelmäßigkeit« dieser Form antiquiere ebenso die »Quadratur einer konventionellen Tonsatzkonstruktion« (GS IX, 149) wie die aus dem antiken Drama abgeleiteten Formgesetze. Damit widerspricht Wagner aber einer Grundposition von Oper und Drama , wo das Formmodell des musikalischen Dramas eben nicht aus der Shakespeareschen, sondern aus der griechischen Tragödie abgeleitet wird.
    Wagner hat seine Improvisationstheorie in der umfangreichen Abhandlung Über Schauspieler und Sänger und seinem Brief über das Schauspielerwesen an einen Schauspieler , die schon in die erste Bayreuther Zeit (1872) fallen, weiterverfolgt. Eine Art Urerlebnis war für ihn die Vorstellung eines Kasperltheaters an der Alten Brücke in Heidelberg während seiner Deutschlandreise im Mai 1871 – Cosima berichtet darüber ausführlich im Tagebuch vom 14. Mai –, die ihn »athemlos

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