Richard Wagner - Werk, Leben, Zeit
als im Sommer 1875 die Ring -Proben in Bayreuth statt fi nden. Während Nietzsches Freunde Gersdor ff , Rohde und Franz Overbeck daran teilnehmen können, muss Nietzsche selber ihnen aufgrund seines heiklen Gesundheitszustandes fernbleiben – wenn es nicht tiefere psychologische und intellektuelle Gründe waren, die ihn zu seiner Absenz zwangen. Gleichwohl erreichen wahre Sehnsuchts- und Trauergesänge die Freunde in Bayreuth, wie dieser Brief an Rohde vom 1. August: »Und doch bin ich mehr als drei Viertel des Tags im Geist dort und schwärme wie ein Gespenst immer um Bayreuth herum […], ich dirigire mir auf meinen Spaziergängen oft genug ganze Theile der Musik, die ich auswendig weiß und brummle dazu.« (NW 425)
Als die vierte der Unzeitgemäßen Betrachtungen Anfang Juli 1876 erscheint – Richard Wagner in Bayreuth – , reagiert Wagner auf Nietzsches »herrliche Schrift« (so Cosima im Tagebuch; NW 1104) begreiflicherweise enthusiastisch, wenn auch – in den unmittelbaren Festspielvorbereitungen steckend – nur telegra fi sch: »Freund! Ihr Buch ist ungeheuer! – Wo haben Sie nur die Erfahrung von mir her?« (NW 285) Zehn Jahre nach der Verö ff entlichung hat Nietzsche in einer nachgelassenen Aufzeichnung die »Festrede« von 1876 trotz ihres panegyrischen Gestus als einen »Lossage- und Entfremdungs-Akt« bezeichnet, denn, so zitiert er aus ihr: »jeder, der sich genau prüft, weiß, daß selbst zum Betrachten eine geheimnissvolle Gegnerschaft, die des Entgegenschauens gehört« (SW I, 466; NW 907). Auch in der Vorrede zu Menschliches, Allzumenschliches II (1886) wird diese »verrätherische und schwermüthige Wendung« aus der »Siegs- und Festrede« zitiert. Letztere sei »eine Huldigung und Dankbarkeit gegen ein Stück Vergangenheit von mir, gegen die schönste, auch gefährlichste Meeresstille meiner Fahrt … und thatsächlich eine Loslösung, ein Abschiednehmen.« (SW II, 370)
Die Festspiele von 1876 hat Nietzsche später zur Peripetie in seiner Beziehung zu Wagner stilisiert, als sei es ihm bei diesem Ereignis plötzlich wie Schuppen von den Augen gefallen und klar geworden, dass Wagner längst von sich selber abgefallen, zu einem ›Wagnerianer‹ geworden sei. » Was war geschehn? – Man hatte Wagner ins Deutsche übersetzt! Der Wagnerianer war Herr über Wagner geworden – Die deutsche Kunst! der deutsche Meister! das deutsche Bier!« ( Ecce homo ; SW VI, 323) Und in Nietzsche contra Wagner (1888) heißt es: »Schon im Sommer 1876, mitten in der Zeit der ersten Festspiele, nahm ich bei mir von Wagnern Abschied. Ich vertrage nichts Zweideutiges; seitdem Wagner in Deutschland war, condescendirte er Schritt für Schritt zu Allem, was ich verachte – selbst zum Antisemitismus … Es war in der That damals höchste Zeit, Abschied zu nehmen: alsbald schon bekam ich den Beweis dafür.« O ff enbar spielt Nietzsche hier auf seine letzte Begegnung mit Wagner in Sorrent und die Konzeption des Parsifal an: »Richard Wagner, scheinbar der Siegreichste, in Wahrheit ein morsch gewordner verzweifelnder décadent, sank plötzlich, hülflos und zerbrochen, vor dem christlichen Kreuze nieder …« (SW VI, 431 f.).
Nietzsches späten Stilisierungen ist freilich mit Skepsis zu begegnen. Es war vor allem sein schlechter Gesundheitszustand, der ihn zur »Flucht« aus Bayreuth (NW 776) während der Festspielproben zwang, wie er der Schwester in einer Reihe von Briefen bekennt. »Es geht nicht mit mir, das sehe ich ein!«, schreibt er angesichts seiner schweren Migräneanfälle am 1. August. »Fortwährender Kopfschmerz […] und Mattigkeit. Gestern habe ich die Walküre nur in einem dunkeln Raume mit anhören können; alles Sehen unmöglich! Ich sehne mich weg, es ist zu unsinnig wenn ich bleibe. Mir graust vor jedem dieser langen Kunst-Abende; und doch bleibe ich nicht weg.« (NW 435) Fünf Tage später zieht er sich in den Kurort Klingenbrunn im Bayerischen Wald zurück. Elisabeth Nietzsche gelingt es jedoch auf Bitten Wagners, ihren Bruder zur Rückkehr nach Bayreuth zu bewegen. Am 12. August tri ff t er zur Teilnahme am ersten Zyklus ein. Erst am 27. August kehrt er nach Basel zurück und lässt sich über den Abschluss der Festspiele von der Schwester berichten.
Ende Oktober, Anfang November 1876 kommt es in Sorrent wie erwähnt zur letzten persönlichen Begegnung mit dem Ehepaar Wagner. Die Universität Basel hat Nietzsche für einen zweisemestrigen Urlaub freigestellt, um seine zerrüttete Gesundheit
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